Ein Wunder von einem Dach

Kashan, südlich von Teheran gelegen, ist ein architektonisches Juwel an der Seidenstraße. Über sechshundert Jahre bot die Altstadt Schutz vor der sengenden Sonne und dem Wüstensand. Eine Wiederbegegnung

VON SAIED SHARIFI (TEXT UND FOTOS)

Meine erste Begegnung mit Kashan liegt lange zurück, es war eine seltsame Begegnung. Ich war vierzehn Jahre alt und brannte darauf, meine weitere Umgebung zu erkunden. Eines Tages schwänzte ich die Schule und setzte mich in den Bus nach Kashan, 240 Kilometer südlich meiner Heimatstadt Teheran. Ich sah einen Ort, der aus der Ferne einem riesigen Sandhügel ähnelte. Beim Näherkommen wurde mir klar, dass diese bizarre Sandlandschaft in Wirklichkeit aus Häusern bestand, genauer: aus den gewölbten Dächern und Kuppeln im Zentrum Kashans. Diese Dächer sind so gebaut, dass sie sich gegenseitig berühren und überragen –und dass man auf ihnen von einer Seite der Stadt zur anderen laufen kann.

Als ich all das zum ersten Mal sah, überkam mich ein Gefühl, als sähe ich eine Fata Morgana. Es zog mich magisch die Wege und Treppen hinauf zu den Dächern, bis zum höchsten Punkt der größten Kuppel. Von hier oben sah ich auf ein sandfarbenes, gewölbtes Feld, mit seltsamen Windtürmen, Glaspyramiden und Straßenlaternen, die wiederum von hohen Luftschächten überragt wurden. All das war zu einem einzigen großen Dach verschmolzen, das die darunter liegende Stadt vor dem Wüstensand schützt.

Auf der höchsten Wölbung entdeckte ich eine Öffnung. Ich schaute über die hellbraune Kruste des Gewölbes ins Innere. Nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, überwältigte mich der Anblick. Meine Augen sahen eine Stadt der Antike, mit gestaffelten Emporen, Säulen und Rundbögen voll Ornamenten, seltsam bemalten, ineinander greifenden Formen an den Wänden, und auf dem Boden in der Mitte ein mit Wasser gefülltes, achteckiges Bassin, das türkis heraufleuchtete. Um das Becken herum waren kostbare Teppiche ausgebreitet, und an jeder Ecke herrschte geschäftiges Kommen und Gehen. Und doch drang kein lauter Ton an mein Ohr, die Geräusche von unten waren gerade laut genug, dass ich meinen konnte, in ein Märchen einzutauchen, eine wunderbare Welt zwischen Traum und Wirklichkeit.

Halb stand, halb lag ich auf dem Dach, übermannt von meiner Entdeckung. Nie hätte ich gedacht, unter diesen rätselhaften Dächern eine verborgene, untergegangen geglaubte Welt zu finden. In Büchern hatte ich über Kashan gelesen, und ich kannte es aus Erzählungen und Märchen. Hier schien es plötzlich nicht mehr unwahrscheinlich, einen seit Urzeiten verschütteten, sagenumwobenen Schatz zu entdecken.

Kashan ist so ein Schatz. Vor einigen tausend Jahren baute man die Fundamente der Stadt am Rande der Wüste Kavir um eine sprudelnde Quelle herum. Einige der Waren, die hier hergestellt wurden – Teppiche, Rosenöl, Fliesen, Samt und Seide – erlangten Weltruhm, und doch blieb die Stadt selbst weitgehend unbekannt. Was nicht unbedingt von Nachteil war, denn so blieb sie von äußeren Einflüssen unberührt. Kashan, an der Seidenstraße gelegen, wuchs und gedieh zu einem wahren Kleinod unter dem Wüstensand.

In Kashan gibt es nur zwei Jahreszeiten: den Sommer und einen kurzen, zarten Frühling von zwei Monaten Dauer, in denen sich die Luft mit dem Duft blühender Rosen füllt. In jedem Frühling, und dies nur für wenige Tage, sind weite Flächen der trockenen Landschaft bedeckt von Klatschmohn, dessen Blüten die Erde wie leuchtende Bluttropfen aussehen lassen. Einige Tage später sind sie so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen sind.

Den Rest des Jahres herrscht Sommer. Unbarmherzig versengt die Sonne alle Pflanzen; die ganze Stadt verwandelt sich in einen verstaubten Landstrich. Nur hier und da sieht man abgemagerte Straßenhunde die Wände entlangstreunen. Zehn Monate im Jahr versuchen alle, so weit nur irgend möglich das Tageslicht zu meiden. Erst am Abend, wenn die Hitze nachgelassen hat, trauen sich die Menschen heraus.

Um der sengenden Sonne, der extremen Hitze und dem Wüstensand zu entkommen, begannen die Stadtväter vor sechshundert Jahren, eine komplett überdachte Stadt zu bauen. Unter diesem Dach ordnete sich das Leben seiner Bewohner in kleinen Gemeinschaften. Unzählige Fenster lassen zu jeder Tageszeit Licht in fein dosierten Strahlen in die Räume. Die Erbauer dieser Stadt wussten das Licht zu deuten, sie sahen in ihm die Manifestation göttlicher Schöpfung.

Kashan ist umgeben von Wüste, Sand und Dürre; umso stärker ist der Wunsch der Menschen nach einer Oase mit fließendem Wasser und einem Stück Grün. Wasser ist hier sehr kostbar; unter unvorstellbaren Mühen wird es aus entlegensten Bergen hierher geleitet. Die Wasserversorgung geschieht durch „Qanaten“. Ein Qanat ist eine unterirdische Wasserrinne von manchmal mehr als hundert Kilometer Länge, die in zehn, zwanzig, sogar dreißig Meter Tiefe angelegt wurde. Das Wasser wird an mehreren Stellen in der Stadt in großen Zisternen gesammelt, die wiederum bis zu vierzig Meter tief sind. Über ein Leitungssystem kann man von dort unten frisches, eiskaltes Wasser schöpfen. Bekrönt werden die Zisternen von riesigen Kuppeln und einem ausgeklügelten System von Luftschächten.

Den Kopf voller Bilder aus dieser nahen und doch so fremden Welt, fuhr ich damals nach Hause, aber meine Eindrücke musste ich für mich behalten. Vor ein paar Jahren kam ich wieder nach Kashan – und fand eine veränderte Stadt vor. Durch starken Bevölkerungszuwachs hat sich die Einwohnerzahl in den vergangenen dreißig Jahren vervielfacht. Die Stadt hat sich in alle Himmelsrichtungen ausgeweitet. Entlang den neuen Autostraßen sind moderne, mehrstöckige Häuser entstanden, mit Aircondition und Autogaragen. Viele der neuen, aber auch der alten Kashani ziehen es vor, in diesen vollklimatisierten Behausungen zu wohnen. In der Altstadt stehen heute viele Häuser leer oder sind abgerissen worden. Der alte, inzwischen denkmalgeschützte Stadtkern wurde zunehmend vernachlässigt, seine Bedeutung als Handels- und Verwaltungszentrum der Stadt hat er verloren.

Hauptattraktion Kashans ist heute ein berühmter Garten im Norden der Stadt. Viele der iranischen Touristen schaffen es nicht einmal, den alten Stadtkern mit seinem einzigartigen Dach zu besichtigen. Man verzichtet auf einen Besuch dort – in der irrigen Annahme, es sehe dort aus wie in jeder anderen Stadt des Iran.

Und doch gibt es sie noch immer, die Basaris und die Kunsthandwerker, die unter dem Dach der Altstadt wie vor hunderten von Jahren ihrer Arbeit nachgehen. Die Teppichknüpfer, die Mustermaler, die Goldschmiede und die Färbermeister, die ihre vom Granatapfelsaft blutrot gefärbten Garne auf den Dächern Kashans zum Trocknen ausbreiten.

SAIED SHARIFI, 46, lebt seit 1980 in Berlin. Er dreht einen Dokumentarfilm über Kashan