Einen Teller Zuhause, bitte

Frühstück, Duschen, ein Schulterklopfen. Für Obdachlose gibt es im Dortmunder Gast-Haus ein paar Stunden Menschenwürde am Tag. „Viele sind nicht nur materiell, sondern auch seelisch obdachlos“

Es kommen von Jahr zu Jahr mehr Menschen ins Gästehaus

Aus DORTMUND SÖNKE KLUG

Zwischen Daumen und Zeigefinger hält Marieluise Mutke einen schwarzweiß karierten Slip hoch. „Noch ‘ne Unterhose?“ Thomas Reinke nickt. Der Slip landet auf einem abgenutzten Tisch, neben dem warmen Wollpullover. Den Pulli bekommt er nur, weil er auf der Straße lebt. „Wir haben eben nicht genug für alle“, sagt Marieluise Mutke leise. Denen, die als Gast niemand will, bietet die Wohnungslosen-Initiative in Dortmund das Nötigste: Frühstück, Duschen, Wäschewechsel, Willkommen sein. Nur durch Spenden finanziert, täglich, für mehr als 200 Menschen.

Thomas Reinke krempelt seinen Ärmel wieder über einen eitrigen Verband. Neulich haben sie ihn nachts aus seinem Schlafsack getreten, sagt der hagere Mann mit den stechend blauen Augen und dem kurzen, dunklen Bart. Andere schenken ihm Geld, wenn er durch die Stadt geht. Marieluise Mutke sucht schon für den Nächsten Socken und ein T-Shirt aus dem Schrank, wie jede Woche, seit mehr als fünf Jahren. „Nimm doch die Sechs, dann bist du gleich dran.“ Wer duschen will, zieht eine Nummer, gibt benutzte Wäsche ab, bekommt dafür andere, saubere.

Thomas Reinke sitzt inzwischen wieder im Frühstücksraum, Geschirr klirrt und klappert, die ersten Tabakwolken von Selbstgedrehten kringeln sich in der Luft, Gemurmel, es riecht ein bisschen süßlich, nach selten gewaschenen Jacken und Hosen. Zehn von insgesamt hundert freiwilligen Mitarbeitern stehen an diesem Morgen keine Sekunde still, tragen Teller um Teller an die schmalen Tische. Darauf ein Brötchen, eine Scheibe Wurst, Butter, Käse. „Ich bin so froh, dass ich herkommen kann“, murmelt Reinke, „will mir gar nicht vorstellen, was sonst draußen auf der Straße los wäre.“ Ab viertel vor acht hat er vor der Tür gewartet, im Dunkeln, zwei Grad unter Null an diesem Morgen.

Elisabeth Henkel legt Wurst auf eine Platte, in ordentlichen Schichten, löffelt Marmelade aus einem großen Glas in Schalen. „Hier hungert keiner“, sagt sie, und dass sie „etwas machen wollte, bei dem man sich nicht so sehr in den Vordergrund stellt“. Seit neun Jahren, seit Gründung der Initiative, ist die Rentnerin dabei, kann kaum über den hohen Stahltresen gucken, hat trotzdem alles im Blick. „Die Arbeit macht Spaß“, sagt Elisabeth Henkel, „aber manches tut sehr weh, das geht dann zuhause im Kopf rum. Viele hier sind ja nicht nur materiell, auch seelisch obdachlos.“ Es kommen von Jahr zu Jahr mehr, sagt sie.

An einem Tisch in der Ecke sitzen zwei zusammen, die besser nicht zusammen sitzen sollten. Aschfahl der eine, Schweißperlen auf der Stirn. „Alles schlecht“, sagt er, „alles scheiße“. Sein Nachbar trampt seit zwei Jahren durch Deutschland, Berliner Schnauze: „Hallo? Denk mal nicht so negativ, immer sind die anderen Schuld, du bist echt eine arme Sau.“ Ein Wort gibt das andere, die Schweißperlen werden größer, und dann geht alles sehr schnell. Eine Faust kracht gegen die Berliner Schnauze, der Kopf an die Wand, Tassen zerbersten auf Fliesen, ein Gewühl. Der Schläger rennt hinaus, im Raum wird es still. Mittendrin, weißhaarig und ein paar sanfte Falten um die Augen, steht Werner Lauterborn, Vorsitzender des Gast-Haus-Vereins. „Das habe ich in neun Jahren nur einmal erlebt“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Bei manchen macht es irgendwann Klick. Diese Menschen stehen permanent unter dem psychischen Stress, nirgendwo akzeptiert zu werden.“ Ihnen will Lauterborn mit dem Gast-Haus einen Raum bieten, in dem sie sich willkommen fühlen. 80.000 Euro muss der Verein im Jahr aus Spenden aufbringen, „bei den hohen Fixkosten können wir kaum sparen“, sagt Lauterborn.

Ein Drittel seiner Gäste lebt auf der Straße, ein Drittel hat keinen Mietvertrag und übernachtet bei Freunden. Alle anderen haben zwar eine Wohnung, brauchen aber das kostenlose Frühstück zum Überleben. So wie der 40-Jährige mit den kurz geschorenen Haaren, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, „wegen meinen Eltern“. Er sammelt die übrig gebliebenen Quarkpackungen vom Tisch in eine dünne Plastiktüte, „mein Abendbrot“, sagt er und grinst. „Muss ich nur noch Pellkartoffeln finden.“ Ab Mitte des Monats kommt er hierher, wenn sein Geld für Heroin draufgegangen ist und fürs Essen nichts übrig bleibt. Kleine Blutflecken leuchten auf dem Unterarm seines dünnen grauen Pullis. Ein Stammgast ist er, wie die meisten hier, „manche kenne ich seit neun Jahren“, sagt Werner Lauterborn. Die Arbeit belastet den pensionierten Lehrer, der drei Herzinfarkte hinter sich hat. „Ich muss abschalten können, sonst werde ich verrückt. Gerade an Weihnachten, da singt man Stille Nacht und dann gehen die alle in irgendwelche Ritzen.“ Es ist kurz nach elf, bis fünf schließt das Gast-Haus. Thomas Reinke und die anderen trotten langsam ins Freie. Es ist ein sonniger Tag geworden. Sonnig, aber kalt.