Auf der Reeperbahn heilig nachts um zwei

Das mit dem freien Unternehmertum hat seine Tücken. Vor allem, wenn man Bahnfahrpläne nicht versteht und im einzigen konzernunabhängigen Taxi von Elmshorn seine Tasche vergisst. Und darum Weihnachten im Nieselregen auf dem Kiez herumsteht. Da droht das Festliche etwas kurz zu kommen

„Hast du eigentlich nur Stroh im Kopf? Erst bist du zu blöd, einen Fahrplan zu lesen, und dann ...“ Vermutlich war es irgendwas mit „a“ in der Mitte. Andererseits gab es auch noch „Mühlenblabla“. Gründe genug, um den journalistischen Instinkt in der stocknüchternen Hochschwangeren zu wecken.

Von Elke Spanner

So richtig anstrengend begann der Heilige Abend zu werden, als er eigentlich schon vorüber war. Eben noch hatte ich die Familie meines Freundes mit Geduld ertragen, hatte deren psychologischer Aufarbeitung des abgelaufenen Jahres mit Anteil nehmender Miene gelauscht und mir nicht einmal meine Enttäuschung über das vegetarische Menü anmerken lassen. Doch nun war es geschafft, wir standen zur Abreise bereit am Bahnhof von Elmshorn, und es fuhr – kein Zug.

Wir waren nicht die einzigen, die da ratlos und frierend auf die verwaisten Gleise starrten. Schnell fanden wir uns zu einer kleinen Schicksalsgemeinschaft zusammen, die sich zwar eingestehen musste, selbst verschuldet an der Fahrplanrecherche gescheitert zu sein, sich aber trotzdem irgendwie ungerecht behandelt fühlte. Wir waren alle auf das gleiche kleine Detail hereingefallen: Auf dem Plan stand, am 24. Dezember im Jahre des Herrn 2003 würde um 0.13 Uhr ein Zug Richtung Hamburg fahren. Vor 24 Stunden also. Schlag Mitternacht bricht der 25. Dezember an, und am 1. Weihnachtsfeiertag fährt um 0.13 Uhr kein Zug.

Für meinen Freund war die Sache schnell klar: Den Schwager anrufen, sich wieder abholen lassen und bei der Verwandtschaft in Elmshorn übernachten. Er, ordentlich beschwipst und durchaus gewillt, bei seiner Familie noch ein Gläschen zu sich zu nehmen, empfand die Situation überhaupt nicht als Problem. Ich aber sah mich bereits mit seinen schnarchenden Neffen schlaflos in einer Art Gruppenschlafraum auf dem Fußboden liegen und wusste sofort: Auf gar keinen Fall. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass wir uns eine Woche vor der Geburt meines Sohnes befanden, mein Bauch schwer und ich natürlich die einzig stocknüchterne war.

Auch mein Freund räumte schließlich ein, dass ich im eigenen Bett wahrscheinlich besser aufgehoben sei als auf dem harten Wohnzimmerboden seiner Schwester. Inzwischen hatte man auch um uns herum begonnen, die Flüche auf die Deutsche Bahn einzustellen und nach einer Ausflucht aus der Situation zu suchen. Wir taten uns schließlich mit einem schwulen Paar zusammen und heuerten auf dem Bahnhofsvorplatz das Taxi an, dass nach weiterer mindestens halbstündiger Wartezeit („Gibt es in Elmshorn überhaupt Taxen?“ – „Ich glaub‘, ich hab‘ hier schon mal eines gesehen“) dort auftauchte.

Es schien also doch noch ein bequemes Ende zu nehmen. Der Preis war schnell ausgehandelt, der Fahrer ausgesprochen nett und die Fahrt sehr kommunikativ. Ich ließ mir von ihm die Probleme schildern, als kleiner Unternehmer mit nur zwei Wagen gegen die großen Taxibetriebe zu bestehen, freute mich darüber, dass wir gerade ihn mit unserer Zahlung unterstützen würden und ahnte nicht, dass es noch zu schweren Komplikationen führen würde, ausgerechnet im einzigen unabhängigen Taxi Elmshorns gelandet zu sein.

Auf der Reeperbahn schließlich hielt unserer Fahrer an. Von hier aus wollten wir die paar Meter zu Fuß nach Hause gehen, während der Fahrer unsere Reisegefährten noch nach St. Georg bringen wollte. Wir verabschiedete uns mit lautem Hallo und den besten Wünschen für das freie Unternehmertum auf der einen und dem kommenden Elternglück auf der anderen Seite. Ich knöpfte meinen Mantel zu, zog die Mütze gegen den inzwischen darniederdonnernden Regen zurecht und wollte mir gerade von meinem Freund bestätigen lassen, dass wir reizende Bekanntschaften gemacht hatten – als er plötzlich ein unchristliches „Scheiße“ ausstieß und losrannte, dem Taxi hinterher. Das aber hatte gerade eine Grünphase gehabt und war weg. Und mit ihm die Tasche inklusive Schlüssel, Portemonnaie und Ausweispapieren, die mein Freund darin vergessen hatte.

Jetzt zeigte sich, dass es nicht nur Vorteile hatte, die Dienste des sympathischen kleinen Unternehmers aus Elmshorn in Anspruch genommen zu haben. Denn natürlich hatten wir keine Ahnung, wie er hieß und wir ihn telefonisch erreichen sollten. Wir riefen per Handy die Schwester meines Freundes an und baten sie, im Elmshorner Branchenbuch nach dem Namen eines Taxibetriebes zu suchen, den wir nur äußerst vage angeben konnten – „irgendwas mit a in der Mitte, glaub‘ ich“. Das blieb natürlich ohne Erfolg.

Meine Laune tendierte inzwischen dem Nullpunkt zu. Es war bereits 2 Uhr, auf der Reeperbahn war ich natürlich erst recht die einzig Nüchterne, und Regen und Kälte malträtierten mich so stark, dass ich kaum mehr das Handy in der erstarrten Hand halten konnte. Ich war also drauf und dran, meinen Freund ordentlich zusammenzustauchen – „Hast du eigentlich nur Stroh im Kopf? Erst bist du zu blöd, einen Fahrplan zu lesen, und dann vergisst Du auch noch ...“ – als plötzlich die Journalistin in mir erwachte. Während unserer Taxifahrt hatte ein Kunde angerufen. Und hatte ich mich nicht noch darüber gewundert, dass unser Fahrer zusicherte, einen Kollegen zu Herrn oder Frau Mühlenblabla zu schicken, ohne nach der Adresse zu fragen? Dafür, wurde mir plötzlich klar, gab es nur einen Grund: Mühlenblabla war keine Privatperson, sondern eine Institution, deren Adresse man als Elmshorner nicht mehr zu erfragen braucht. Fieberhaft rief ich mir das Telefonat ins Gedächtnis zurück. Statt blabla könnte im zweiten Teil des Namens auch ein „i“ gewesen sein. Mühlenblabla, kombinierte ich, hieß in Wirklichkeit Mühlenwirt und war – na? – natürlich ein Restaurant.

Mein Freund starrte mich fassungslos an, als ich ihm Minuten später die Telefonnummer eines Lokales in Elmshorn diktierte, die mir die Telefonauskunft anstandslos verraten hatte. Auch mein dortiger Anruf war zwar nicht wirklich ein Spaß, weil der Besitzer ausgerechnet mich für besoffen hielt und lautstark verkündete, ich könnte bei ihm Bier bestellen, aber keine Taxifahrer. Schließlich aber nahm eine nüchterne Kollegin dem vermutlich weihnachtlich Gestressten den Hörer aus der Hand und hörte mir immerhin mal zu. Und erinnerte sich tatsächlich daran, etwa eine Stunde zuvor für einen Gast ein Taxi bestellt zu haben, und zwar unter der Telefonnummer ...

Kurzum: Unser netter Taxifahrer war noch in Hamburg und sogar so nett, auf dem Rückweg auf der Reeperbahn zu halten und uns die Tasche wieder auszuhändigen. Nach Hause, ins warme Bett, war es dann auch nicht mehr weit.

Und ich hatte einen Freund an meiner Seite, der sich so tief in meiner Schuld fühlte, dass er mir die kommenden Tage jeden Wunsch von den Augen ablas. So wurde es unverhofft noch einmal richtig weihnachtlich.