Episches Entertainment

Einst bot Erich Mendelsohns Kabarett der Komiker die Projektionsfläche für die glitzernden Träume der neuen Angestellten. Heute dient das Gebäude zukünftigen Hartz-IV-Anwärtern als Wärmestube

VON KOLJA MENSING

„Urban Entertainment“ ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Schon um 1900 herum ist zum Beispiel der Lehniner Platz am Kurfürstendamm ein ausgewiesener Ort städtischen Amüsements und zeitgemäßer Unterhaltung. Man legt Tennisplätze an, im Winter eröffnet eine Eisbahn, und im Sommer kann man in einer Art Wasserzirkus Flottenspiele bewundern und den Inszenierungen historischer Stoffe beiwohnen. 1905, der Erste Weltkrieg wirft bereits seine langen Schatten voraus, drängen sich hier mehr als 4.000 Besucher auf hölzernen Tribünen und erfreuen sich an einer dramatischen Bearbeitung des endzeitlich gestimmten Romans „Die letzten Tage von Pompeji“.

Flüchtige Architekturen kennzeichnen die Anfänge der Eventgesellschaft. Von den Kulissen „Die letzten Tage von Pompeji“ ist heute nichts mehr zu sehen. Erst in den Zwanzigerjahren wächst in Berlin die Nachfrage nach beständigen Orten für die schnelllebige Vergnügungskultur der Lichtspielhäuser und Cafés, Nachtclubs und Kabaretts. 1925 beauftragt darum die Berliner Wohnhausgrundstücksverwertungs AG, kurz: Woga, den Architekten Erich Mendelsohn, einen ganzen Straßenblock am unteren Kurfürstendamm zu bebauen – und so den „neuen Westen“, wie man damals sagt, gegenüber dem alten Zentrum der Stadt stark zu machen. Der so genannte Woga-Komplex kombiniert verschiedene Elemente, die in ihrer Zusammenstellung an ein modernes Urban Entertainment Center wie den Potsdamer Platz erinnern: Zu dem 1931 abgeschlossenen Ensemble am Lehniner Platz gehören ein Kino und ein Kabarett, ein Hotel, das allerdings nicht fertig gestellt wird, Geschäfte und eine architektonisch anspruchsvolle Wohnanlage für gehobene Ansprüche.

Der bekannteste Teil des Projektes ist das Universum-Kino, in dem heute die Schaubühne untergebracht ist. „Kein Rokokoschloss für Buster Keaton. Keine Stucktorten für Potemkin und Scapa Flow“, fordert Mendelsohn und baut zum ersten Mal ein Kino, das nicht wie ein historisierender Theaterbau aussieht. Die geschwungene Front wird von einem schmalen Fensterband geziert, das an einen Zelluloidstreifen erinnert, ein schlanker Belüftungsturm ragt wie eine Kommandozentrale aus Stahlbeton aus dem Gebäude, und im Inneren sind Lobby und Auditorium fein auf die technischen und logistischen Anforderungen des neuen Mediums abgestimmt.

Das richtungweisende Gebäude, dessen Architektur zum Vorbild für zahlreiche andere Kinos in Europa und in den Vereinigten Staaten wird, fehlt in keinem Berliner Kunstreiseführer. Das Kabarett der Komiker, das Mendelsohn daneben setzte, wird dagegen meist nur am Rande erwähnt – vielleicht auch, weil es sich schon seit längerem nicht gerade von seiner besten Seite zeigt: Die Erinnerung an das legendäre Kabarett mit dem Café Leon, in dem Erich Kästner nach seinem Umzug in die Roscherstraße oft Gast war, ist verblasst, und die Reklametafeln der Merkur-Spielothek und einer Bowlingbahn lassen zusammen mit einem leicht windschiefen Vorbau, in dem ein italienisches Restaurant untergebracht ist, kaum noch etwas von der ursprüngliche Fassade ahnen.

Dabei ist das Kabarett der Komiker, das heute wie eine hässliche kleine Schwester neben der sorgfältig herausgeputzten Schaubühne steht, Ende der Zwanzigerjahre ebenfalls eine kleine architektonische Sensation – eine moderne Vergnügungsmaschine, die mit ihrem runden, vorstehenden Dach und dem asymmetrischen Zuschnitt einen der futuristischen Romane des frühen 20. Jahrhunderts hätte illustrieren können. Selbstverständlich findet sich auch hier kein „Stuck“ und kein „Rokoko“, auch keine Säulen, Nischen und Winkel, die an die kleinen Theater und schummerigen Keller erinnern könnten, in denen ansonsten in der Stadt Kabarett gespielt wird. Erich Mendelsohn ist ganz in der Gegenwart angekommen – und entwirft mit den stromlinienförmigen Fassaden am Lehniner Platz eine matt schimmernde Projektionsfläche für die glitzernden Träume der neuen Angestelltenschicht.

Viel ist von diesen Träumen nicht übrig geblieben, auch wenn in der Diskothek Far Out, die sich hier seit über zwanzig Jahren gehalten hat, immer noch Sekt und Champagner die Getränkekarte anführen und die Kinder der Dienstleistungsgesellschaft an den Glanz vergangener Zeiten erinnern. Doch tanzen war gestern. Im Ku’damm-Bowling in der ersten Etage versammeln sich heute am frühen Abend zu „Afterwork“-Preisen drahtige Frauen in hochgeschlossenen Jeans und untersetzte Männer in Freizeithemden, um den Feierabend mit 6er-Serien, mindestens 200 Pins und Fassbier zu beginnen. Die Eleganz, mit der sie zum Soundtrack von Phil Collins und Jeanette Biedermann ihre Kugeln auf das Parkett setzen, steht in sonderbarem Gegensatz zur lieblosen Inneneinrichtung der Halle. Die schwarze Auslegware ist mit bunten Planetensymbolen bedruckt, rote, grüne und blaue Neonröhren beleuchten die Bar, und damit es nicht zu sehr nach den Achtzigerjahren aussieht, schmücken zahlreiche Pappaufsteller mit der Desperado-Werbung aus dem vorletzten Sommer die Nischen und Gänge. Hier ist Bowling kein Retroschick, sondern unspektakuläres Vergnügen für ein abgehalftertes Westberliner Kleinbürgertum, das über die Jahre gelernt hat, in jeder Situation die sprichwörtliche „ruhige Kugel“ zu schieben.

In der Spielothek im Erdgeschoss ist Freizeit dagegen nicht mehr an den Feierabend gebunden. Wer hier an einem der zahlreichen Geldspielautomaten auf einen „Sunny Jackpot“ hofft, streicht woanders schon länger keine Gewinne mehr ein. Statt Pokerface trägt man hier die Aussichtslosigkeit der eigenen Situation zur Schau und vermeidet beim Geldwechseln an der mit schusssicherem Glas verkleideten Kasse möglichst jeden Blickkontakt. Zigarette, Kaffee, und dann ein resignierter Druck auf die Risikotaste: Den auf den Plakaten in den Fenstern der Spielothek reichhaltig versprochenen „Spaß“ haben hier offensichtlich nur die paar Teenager, die nach der Schule eine halbe Stunde lang an der 3-D-Panzersimulation Vortek V3 ihren Kopf in den Virtual-Reality-Helm stecken und am MG die Sau rauslassen.

So verweist die traurige Fassade mit ihren Werbeslogans, den zerbrochenen Scheiben im Obergeschoss und der nahtlos eingepassten Aldi-Filiale an der Ostseite vor allem auf die neue Funktion des ehemaligen Kabaretts der Komiker, das nun der wachsenden Schar von Modernisierungsverlierern und zukünftigen Hartz-IV-Anwärtern als Wärmestube dient: Erich Mendelsohns zeitloser Entwurf einer modernen Vergnügungsstätte hat sich von einem Ort des Amüsements zu einem freudlosen Themenpark der Zweidrittelgesellschaft gewandelt.

Unterhaltung sucht man heute an anderen Orten. Beruhigend ist allein der Gedanke, dass auch die neuen Urban Entertainment Center in fünfzig oder hundert Jahren ein ähnlich ruinöses Bild abgeben dürften. Auch der Potsdamer Platz ist schließlich nicht für die Ewigkeit gebaut.