Ein ganz besonderer Tag

Die Perlenkette der alten Dame

VON STEPHANIE BARTH

Sie nahm die Kette ab und betrachtete verträumt die glänzenden Perlen. Dann lächelte sie ihrem Spiegelbild über der Kommode zu. Sie war ein bisschen beschwipst und war durchaus zufrieden mit dem, was sie dort sah. Es war ein schöner Weihnachtsabend gewesen. Sie strich sich übers Haar, ergriff den Lippenstift auf der Kommode und zog noch mal die Lippen nach. Sie zwinkerte sich im Spiegel zu.

„Findest du nicht auch, dass es ein ganz besonders herrliches Weihnachtsfest dieses Jahr war? Nächstes Jahr hänge ich wieder Großmutters Weihnachtskugeln an den Baum. Die Gans ist mir tatsächlich mal wieder gut gelungen.“ Sie drehte sich um und lächelte ihrem Mann zu. Schick sah er aus in seinem grauen Anzug. Das silberne Haar stand ihm gut. Es machte ihn kein bisschen älter, er sah nur distinguierter aus. „Ich weiß auch schon, was wir Luise nächstes Jahr schenken. Sie hat sich so über die Goldkette gefreut. Ich finde, man sollte den Kindern den Familienschmuck schenken, solange man noch lebt. Da haben sie wenigstens was davon.“

Sie liebte es, wenn die ganze Familie beisammen war. Weihnachten war für sie das schönste Fest: die Familie, die Geschenke, der leuchtende Baum, das geschmückte Haus, das festliche Essen. Ja, Weihnachten war ein ganz besonderer Tag. Sie saß noch immer im Schlafzimmer vor der Kommode und stellte sich vor, welches Schmuckstück sie nächstes Jahr verschenken würde: vielleicht die Brosche mit dem Saphir oder den Rubinring? Sie selbst trug diesen Schmuck nur noch selten, aber die jungen Leute heute liebten es, Alt und Modern zu kombinieren. Und bei Luise sah es apart aus, weil sie einen eigenwilligen Kleidungsstil besaß.

Sie schaute aus dem Fenster. Die meisten Häuser waren schon dunkel, aber die Weihnachtsdekoration leuchtete an fast jedem Haus. Wie wohl die Nachbarn Weihnachten verbracht hatten? Morgen würde sie bei Frau Liebermann anklingeln und ihr ein Stück von der Torte vorbeibringen. Sicher würde sie sich freuen, denn es war nicht einfach, so einsam zu sein, besonders an den Festtagen.

Schade, dass die Kinder schon so früh wegmussten. „Aber immerhin haben wir sie einmal im Jahr alle bei uns. Weißt du, das ist nicht selbstverständlich. Es gibt genug Familien, in denen die Kinder ihre eigenen Pläne haben. Aber bei uns ist Weihnachten immer noch ein Familienfest.“

Paul hatte seine neue Freundin mitgebracht. Ein nettes Ding, aber ob sie zu ihrem Sohn passte? Sie wollte unbedingt mit ihrem Mann darüber sprechen, aber morgen. Heute Abend wollte sie nur der harmonischen Stimmung nachhängen. Paul hatte schon immer einen ausgefallenen Geschmack gehabt. Etwas verärgert war sie über den Kommentar des Mädchens gewesen, Gans gehöre wohl zum Weihnachtsfest in gutbürgerlichen Familien dazu. Sie hatte dabei etwas süffisant gelächelt. Morgen musste sie die Meinung ihres Mannes einholen. Immerhin war das die vierte Freundin, die ihnen Paul präsentierte. Irgendwann musste der Junge ja mal eine Entscheidung treffen. Aber jetzt schob sie den Gedanken beiseite.

Dieser Heiligabend war wieder ein voller Erfolg gewesen. Ihr war es gelungen, eine festliche Stimmung zu zaubern. Und sie glaubte, dass darin auch das Geheimnis lag, warum die Kinder jedes Jahr von weit her anreisten, um Weihnachten bei ihnen zu verbringen.

Bedächtig legte sie die Perlenkette in die Schmuckschatulle und klappte den Deckel zu.

Es klopfte an der Tür. „Hallo, Frau Bering. Was machen Sie denn noch hier? Es ist jetzt Zeit, schlafen zu gehen. Ich lösche gleich das Licht.“

Die Nachtschwester schaute die alte Dame besorgt an. „Haben Sie hier den ganzen Abend allein verbracht? Nicht mal Ihr schönes Kleid haben Sie angezogen! Schade, dass Sie nicht an der Feier teilnehmen wollten. Pastor Beier hat eine sehr schöne Weihnachtsgeschichte vorgelesen und Frau Marvin hat für jeden Bewohner ein kleines Weihnachtssäckchen gepackt.“

Sie ging auf die alte Dame zu, griff ihren Ellenbogen und zog sie vorsichtig, aber bestimmt vom Stuhl hoch. Sie merkte, wie Frau Bering mit der linken Hand etwas umklammerte. Sie öffnete ihre Finger und sah zu ihrer Verwunderung einen Lippenstift. „Jetzt gehen wir aber ins Bett“, sagte sie und nahm der alten Dame im Nachthemd den Lippenstift kopfschüttelnd aus der Hand.

Sie schob die alte Dame vor sich her bis zum Bett, wo sie die Decke zurückschlug. „Sie wissen doch, was heute für ein Tag ist? Und Weihnachten ist doch immerhin etwas ganz Besonderes.“