Gezeitete Zeit

Über das Lesen von Zeitungen

Von Cees Nooteboom

Eines Tages, kurz bevor ich Berlin verließ, um wie jedes Jahr in Spaniens Süden zu ziehen, stöberte ich in der Preußischen Staatsbibliothek in einigen jener halluzinogenen Bücher herum, die man nur in großen Bibliotheken findet und die noch am ehesten dem verzweifelten Versuch gleichkommen, eine Bestandsaufnahme der Welt zu machen. In diesen Büchern ist zu lesen, welche Zeitungen es in welchen Ländern gegeben hat oder noch gibt. Jüdische Presse in den Niederlanden, 1674–1940, Nova Scotia Newspapers, The Cape Breton Times, vol. 1, no. 1, 5.10.1872, Erscheinen eingestellt im Sommer 1880, als das Gebäude dieser Zeitung durch Feuer zerstört wurde, die Königlich Privilegierte Berlinische Zeitung, 1785–1911 („Von Staats- und Gelehrten Sachen“), Handbuch der Deutschsprachigen Presse außerhalb Deutschlands: Tageszeitung für Südwest-Afrika (Allgemeine Zeitung, 1916, Windhoek), New Yorker Staats-Zeitung und Herold, 1834, tägl. 25.000 Exemplare, Der Australische Spiegel, Perth, gegr. 1952 (fraglich, ob er noch besteht), Milliarden babylonischer Wörter, die in all der Zeit der Welt von der Welt erzählt haben. Wer danach süchtig ist, kommt nicht davon los.

Zeitung, diario, journal, krant, was hat es mit diesen Wörtern auf sich? Zeitung, das deutsche Wort, hat einen heideggerianischen Klang, als wolle es ausdrücken, daß sich möglicherweise etwas mit der Zeit selbst tun lasse. Auch das Niederländische ist nicht ganz nüchtern geblieben. Da heißt eine Zeitung krant, vom französischen courant, das wörtlich strömend bedeutet, etwas, was man aus dem (unterdessen weiterströmenden) Strom der Zeit fischt, herausnimmt, aufbewahrt. Man will die Zeitung aber nicht wirklich aufbewahren, das tun nur einige Fanatiker, das eine oder andere Museum und natürlich das Archiv der jeweiligen Zeitung. Die anderen (die meisten) lesen auf diesen zwanzig, dreißig Seiten, wie die Welt (die Zeit) gestern aussah, und weil es nicht ganz sicher ist, wie die Welt gestern ausgesehen hat, lesen sie eine Zeitung, von der sie der Ansicht sind, sie – und nicht eine x-beliebige andere – gebe die Wirklichkeit, die sie inzwischen bereits wieder hinter sich gelassen haben, am besten wieder. Es kommt vor, daß die Zeitungen, die wissen, in welcher Art von Wirklichkeit ihre Leser gestern gelebt haben wollen, die höchsten Auflagen haben. Es kommt auch vor, daß es Leute gibt, die viele solcher Zeitungen besitzen. Diese Leute heißen dann Murdoch, Springer, Berlusconi.

Das französische journal kommt vom lateinischen diurnalis, täglich, ebenso wie das spanische diario. Auch das bedeutet Zeitung, im Französischen und im Spanischen aber auch Tagebuch, etwas, was Mädchen, Schriftsteller und Politiker führen. Eine borgesianische Vorstellung: Würde man von einem bestimmten Tag sämtliche Zeitungen der Welt, diese Hunderttausende oder vielleicht sogar Millionen Seiten, in einem gigantischen Buch sammeln, dann hätte man das Tagebuch der Welt: einer Welt, bedeckt mit Papier, und dieses Papier, so groß wie die Welt, bedeckt mit Wörtern in sämtlichen geschriebenen Sprachen der Menschheit: all unsere Kriege, Verhandlungen, lokalen Konflikte, Meinungen, Kommentare, revidierten Überlegungen, all unsere Katastrophen, Handelsgüter, Eheschließungen, Frischverstorbenen, das menschliche Geflüster und Geschrei eines einzigen Tages, gedruckt auf einem Wald von Bäumen.

Um die Tragweite dieser Vorstellung zu erfassen, müssen Sie die Zeitung, die Sie gerade in den Händen halten, in Gedanken durch eine Zeitung aus Zentralafrika, Alaska, einer fernen Provinz im Westen Brasiliens, der Hauptstadt Birmas ersetzen – oder einfach durch eine Zeitung aus Basel. Orte, Regionen, Länder ohne Zeitungen gibt es nicht, und überall dort, wo eine Zeitung erscheint, befindet sich der Mittelpunkt der Welt. In der Mainichi Daily News oder in der Malay Mail, im Gulf Daily Mirror oder in der New Orleans Times Picayune mußte ich Europa erst suchen, und die Niederlande gab es schon gar nicht mehr, sie waren, da die Welt nun einmal rund ist, vom Globus gefallen, hinter dem Horizont verschwunden, es war Nacht bei uns, wir waren unsichtbar, der Spiegel nahm uns nicht mehr wahr. Für einen süchtigen Zeitungsleser ist das eine eigenartige Erfahrung. Zeitungen haben bei all ihrer Ephemerität – flüchtige, hauchdünne Blätter, in denen morgen, wie Schauspieler sagen, wenn sie eine schlechte Kritik bekommen haben, der Fisch verpackt wird – zugleich etwas Solides und sogar bei der schlimmsten Nachricht etwas Beruhigendes: Die Welt existiert. Du bist gerade aufgewacht, eben zurückgekommen aus dem dunklen Reich des Schlafes, mach dir keine Sorgen, hier bin ich schon, frischgebacken, ich rieche noch nach Druckerschwärze, und mag ich vielleicht auch schrecklich, daß du sie, mit meiner Hilfe, in gewisser Weise beherrschst. Wer daran gewöhnt ist, der wird nervös, wenn sein Weltbild plötzlich nicht mehr vom lokalen Spiegel oder Mirror reflektiert wird, wenn sein Land verschwunden zu sein scheint und sein Erdteil auf Seite neun auf einen unlösbaren Krieg und einen Tarifkonflikt reduziert ist. Und dennoch: Gleichzeitig berichtet diese Zeitung in New Mexico, Valparaiso, Niger, Rangun, Kioto ihm etwas sehr Wertvolles, nämlich, daß seine Welt nicht die einzige ist, daß es andere gibt, von denen er immer zuwenig weiß, in denen die Prioritäten anders liegen, in denen seine daheim so selbstverständliche Bedeutsamkeit relativiert wird und nach einer nicht restlos zu ermittelnden Relativitätstheorie auf den Platz verwiesen wird, der ihr dort und in diesem Moment zukommt.

Der wahre Reisende wird dies auch immer als wichtiges Element seiner Reise betrachten. Dafür war er doch auf Reisen gegangen, oder? Er sitzt im Botanischen Garten von Buenos Aires oder auf der Terrasse des „Goldenen Schwans“ in Würzburg und läßt sich anhand der dort gültigen Zeitung in die Welt einführen, die er gesucht hat.

Gleich wird er Bescheid wissen: wer gestorben ist, was der Gemeinderat in bezug auf die neue Umgehungsstraße beschlossen, was der scheidende Bürgermeister gesagt hat, wie der Konflikt mit der Landesregierung gelöst worden ist, wer wen wo und warum ermordet hat, was das Fleisch kostet und wie die Telefonnummer von Bibi und Tanja lautet, die sich hier anbieten. Erst dahinter – und es gibt wirklich nur wenige Zeitungen auf der Welt, die hier eine Ausnahme bilden – dämmert, droht, existiert jenes andere, von dem wir alle ein Teil sind: die Verschmutzung, das Ozonloch, das Handelsdefizit, die Arbeitslosigkeit, der Krieg.

Man hat mich mal gefragt, welche Bedeutung das Zeitunglesen für mich hat. Eine sehr große, und daher sträube ich mich von Zeit zu Zeit dagegen. Ich möchte nicht ständig in den Tageswahn hineingezogen werden, in die Dinge, die ich doch nicht ändern kann, in das kleinliche politische Gezänk. Dann bin ich froh, daß es stumpfsinnige, vulgäre, hochmütige, manipulierende, nach Profit gierende Zeitungen gibt, die ich wenigstens hassen oder ignorieren kann. Was allerdings nichts hilft, denn es gibt auch wunderbare, lehrreiche, aristokratische, intelligente, liberale, scharfsinnige Zeitungen, und denen kann man viel schwerer widerstehen. Nur, sie kosten so viel Zeit, nomen est omen, und in meinem Leben scheint es davon immer weniger zu geben. Ich habe einen Freund, einen liebenswerten Menschen, Sanskritist, Mathematiker, Philosoph. Er wohnt in einem nahezu japanischen Haus an einem Hügel in Kalifornien. Aus dessen großen Fenstern blickt man auf die echte Welt, die Bucht von San Francisco, den unaufhörlichen Verkehr auf der Golden Gate Bridge, Zehntausende von Autos voller Zeitungsleser, doch in seinem Haus ist keine einzige (und im übrigen auch kein Fernseher und kein Radio) zu finden. Er hält das für Zeitverschwendung. „Ich möchte in meinem Leben einige Dinge ergründen“, sagt er, „und alles, was ich wissen will, steht in Büchern. Den Rest muß ich selbst schreiben, und dafür brauche ich Zeit.“ – „Aber du lebst doch in der Polis“, sage ich dann, „es passieren doch Dinge in der Welt, die auch dich etwas angehen.“ – „Natürlich“, sagt er dann wieder, „aber wenn etwas wirklich Wichtiges passiert, so wird mir das schon irgend jemand erzählen“, und dagegen läßt sich wenig einwenden.

Borges berichtet irgendwo, daß er bis zum Zweiten Weltkrieg nie Zeitungen gelesen habe (und dennoch für sie schrieb). Als dann der Krieg ausbrach, kamen ihm Zweifel. Mußte er in Buenos Aires, fern vom Kriegsschauplatz, nun doch anfangen, Zeitung zu lesen? Er hat es nicht getan, sondern sich statt dessen die Annales und Historiae von Tacitus vorgenommen: auch Krieg, aber in klassischem Stil, die Idee des Krieges, den die Zeit seines Grauens entkleidet hat. Das kann eine Zeitung natürlich nicht leisten, sie existiert ja gerade kraft der wirren, unsortierten, kurzsichtigen Gegenwart – künftige, noch nicht rubrizierte Geschichte. Geschichte – und Geschichten. Die großen, die der Völker, die kleinen der einfachen Leute, die ein Schicksalsschlag oder ein Zufall in den Nachrichtenzirkus verschlagen hat.

Schriftsteller haben es immer verstanden, sich diese Quellen zu erschließen. Uwe Johnsons Jahrestage sind ohne seine tägliche Lektüre der New York Times undenkbar, wie in einem seltsamen Rückspiegel kann man darin, mitten durch die Beschreibung einer Reihe sehr deutscher Lebensläufe, die Geschichte des Vietnamkrieges lesen. So heißt es auf Seite 513: „Einmal wird Marie über mich auch sagen: Meine Mutter war eine Leserin der New York Times; nicht als Indiskretion, als Kennzeichnung doch. So wird sie mich vergleichen mit Cresspahl in London, der aus dem Daily Herald die Labour Party hören wollte, mit Lisbeth Cresspahl, die nicht versehentlich den Manchester Guardian aus der Stadt mitbrachte, die in Mecklenburg ganz zufrieden war, daß es da nur noch den Lübecker Generalanzeiger zu abonnieren gab und nicht den Volksboten, sozialdemokratisch, verboten, ausgeräubert.“

Andere Schriftsteller interessiert eher das triviale Gesicht der Zeitung. Alfred Appel jr. berichtet in seinem Buch Annotated Lolita, daß Nabokov die New York Daily News wegen der Kriminalnachrichten las, ganz nach dem Rezept von James Joyce, der sich zwar aus Dublin verbannt hatte, sich aber dennoch in Zürich und in Triest mit Hilfe von Zeitungen umfangreiches dokumentarisches Material über den 16. Juni 1904 beschaffte, den einen Tag, der in Ulysses, diesem über 700 Seiten zählenden Buch, so erschöpfend beschrieben wird. Joyce las die Police Gazette, das popelige Blättchen Tidbits (genau wie eine seiner Hauptfiguren, Leopold Bloom) und sämtliche Tageszeitungen, die im fernen Dublin erschienen.

Eine passive Beziehung ist jedoch nicht die einzige, die Schriftsteller zu Zeitungen haben, García Marquez und Hemingway haben ihre journalistische Vergangenheit nie verleugnet, in romanischen Ländern sind Kommentare, Reiseberichte und Betrachtungen bekannter Schriftsteller, von Eco bis hin zu Vargas Llosa, Fuentes und Benedetti, an der Tagesordnung. Aus dem Schreiben für Zeitungen läßt sich auch viel lernen. Das Klischee will, daß der Journalismus den Stil korrumpiere oder einen zu allen möglichen Konzessionen und Kompromissen zwinge. Das freilich hängt von der Art des Journalismus ab.

Ende der fünfziger Jahre war ich ein junger Schriftsteller, der sich mit einem verträumten und weltfremden Buch, Das Paradies ist nebenan, in seinem eigenen Land einen gewissen Namen gemacht hatte. Ich hatte keine Ahnung und war zum Schriftsteller ernannt worden. Was nun, oder, anders ausgedrückt, wie kommt man an Welt? In diesem Augenblick trat der Chefredakteur einer Morgenzeitung in mein Leben. Was er mir gab, war uneingeschränkte Freiheit. Ich brauchte nie in einer Redaktion zu sitzen, durfte aber dorthin kommen. Ich konnte über Filme schreiben oder über Ausstellungen, durch die Stadt schlendern oder auf Reisen gehen, eine Parlamentssitzung verfolgen oder die 24 Stunden von Le Mans, und all das habe ich getan. Die einzige Bedingung war, daß die Artikel persönlich gehalten sein mußten, ich durfte mich zwar auf das Terrain von Sportreportern, Filmrezensenten und Auslandskorrespondenten begeben, durfte aber nie so schreiben wie sie. Streiks, Wahlen – nie war ich der echte Berichterstatter, stets nur der eigenartige Passant, der eben etwas anderes sah und von etwas anderem berichtete als dem, was man gemeinhin als Nachricht bezeichnet. Ohne diese Erfahrung hätte ich meine Berliner Notizen nie schreiben können. Das Geheimnis besteht darin, daß man seinen Stil nicht aufgibt, sondern schärft. Im Tausch dafür bekommt man die Welt oder, wenn man es vornehm ausdrücken will, connaissance du monde.

Zeit, Welt, Spiegel, Beobachter, EI Tiempo, Le Monde, The Mirror, The Observer – so heißen Zeitungen, und all diese Elemente sind beim Schreiben unentbehrlich. Neben mir liegen, während ich dies schreibe, einige der Zeitungen, die ich unterwegs gekauft habe, und wenn ich sie lese, dann denke ich an die Redaktion, in die ich früher meine Artikel brachte, die rauchenden Männer an den klappernden Schreibmaschinen, die Spannung des unerbittlich „letzten“ Termins, das gerade noch rechtzeitig mit den Blättern in der Hand In-die-Setzerei-Stürmen, wo der Chef vom Dienst am Umbruchtisch wütend auf einen wartete. Ob es das alles noch gibt, weiß ich nicht. Wenn ich heute gelegentlich in eine Redaktion komme, dann sitzt dort eine schweigende Menge vor lautlosen Bildschirmen, so als rufe die Welt nicht mehr, sondern flüstere nur noch. Den Zeitungen selbst ist das glücklicherweise nicht anzumerken. In ihren Namen spiegeln sie meine Reise, L’Ardennais, La Depeche du Midi, Diario de Navarra, Heraldo de Aragon, der nie mehr wiederkehrende 24. und 30. Juni, der für allezeit von uns weggerollte 11. Oktober 2001, die Geschichte eines Tages, einst, dort und damals. Papierne Monumente, in denen im Idealfall die Reflexion des aktiven Lesens über die manipulierte Emotion des passiven Sehens gesiegt hat, in denen die Zeit nicht nur wiedergegeben ist, sondern ihr auch etwas hinzugefügt wurde, ein aktiver Bestandteil, bestehend aus Erkennen, Wissen, Meinung, Argumentation, Reflexion, wonach, mag die Veränderung auch noch so minimal sein, die Zeit des Lesers nicht mehr die gleiche sein kann, da er vom Lesen berührt worden ist: Zeitung, gezeitete Zeit.

Übersetzung aus dem Niederländischen: Helga van Beuningen