Mary die Weihnachtsgans

Der kleine taz-Fortsetzungsroman zwischen den Jahren in fünf Folgen. Heute: Folge zwei

Was bisher geschah: Die Gans Mary entgeht ihrem Schicksal als Weihnachtsschmaus und trifft Gott, der sich aber weigert, sie zu erschlagen, weil er seine Blitze noch für andere Zeitgenossen braucht.

Auf dem gefrorenen Boden wurde es Mary langsam ungemütlich, also stand sie wankend auf. Aus ihrer Out-of-Bed-Frisur ragte eine Beule wie ein rotes Blaulicht. Sie watschelte fort von der Fabrik, raus aus dem hässlichen Gewerbegebiet, die Landstraße entlang. Die Sonne ging langsam auf und ließ den Rauhreif funkeln, als befände man sich in der Schmuckabteilung von Karstadt.

Marys Magen fing langsam an zu grummeln. In einiger Entfernung lag etwas auf der Straße und dampfte. Sie watschelte näher. Es handelte sich um einen frisch überfahrenen Igel. „Frühstück!“, freute Mary sich. Während ihrer Gefangenschaft hatte sie ab und zu auch mal eine Ratte, einen Marder oder eine Katze vorgesetzt bekommen. Sie putzte den Igel weg und rülpste ausgelassen. Vielleicht war die Freiheit doch nicht so übel, wie sie befürchtet hatte.

„Willkommen im Naturpark Hartz“, verkündete ein Schild an der Straße. Irgendein Witzbold hatte dem Schild ein „T“ hinzugefügt. „Danke, liebes Schild“, sagte Mary. Sie war wirklich gut drauf. Nach ein paar Kilometern begegnete ihr ein dickes, blaues Eichhörnchen. „Hello isch bin Gregory und isch bin von America“, sagte das Eichhörnchen. „Illegal alien“, fügte es ein wenig verschämt an. „Willkommen im Naturpark Hartz!“, rief Mary. Gregory freute sisch ... äh sich. Gemeinsam zogen sie weiter durch die arschkalte Landschaft. Als es dunkel wurde, sagte Gregory: „Isch kenne eine lauschige Platz fur Ubernackten!“ – „Ubernackten?“ fragte Mary. „Ja“, sagte Gregory, „follow me!“ Er huschte einen 30 Meter hohen Baum hinauf und verschwand in einem Astloch.

„Du Eimer“, dachte Mary. Der nächste Morgen. Mary und Gregory standen an der B 81. Rushhour. Der vorbeidonnernde Verkehr war so laut, dass man sich kaum unterhalten konnte. Mary war ganz mies drauf. Sie hatte kein Auge zugetan und ihr knurrte höllisch der Magen. Plötztlich hatte sie eine Idee. „Gregory!“, schrie sie. „Ja?“, schrie Gregory zurück. „Ich glaube, ich habe da drüben einen ganzen Haufen Eicheln, Bucheckern und Nüsse gesehen!“ – „Oh, super!“, brüllte Gregory. Er hoppelte auf die Straße und wurde prompt von den Zwillingsreifen eines 40-Tonners zermatscht. Fruhstuck!

So zog Mary durch die Lande, ernährte sich von Plattgefahrenem und schlief unter Brücken, geparkten Autos oder in Telefonzellen. Auf ihrer Speisekarte standen Igel, Kaninchen, Katzen, Hunde, Rehe, Wildschweine und selten mal ein Krokodil. Bald merkte sie, wie schwierig es sein konnte, platt gewalzte Tiere von der Straße zu lösen, besonders dann, wenn sie sich schon längere Zeit dort befanden. Sie erfand einen praktischen Schaber aus Kunststoff, den sie fortan mit sich führte. Der Schaber, von Mary werbewirksam „Roadscraper®“ genannt, wurde bundesweit ein Verkaufsrenner, denn die drohende Umsetzung von Hartz IV zwang viele Menschen, sich nach alternativen Nahrungsquellen umzusehen. Schon bald war es ein gewohntes Bild, wenn Familien auf ihren sonntäglichen Spaziergängen mit Plastiktüten und Roadscrapern® unterwegs waren. Ein wahrer Verkaufsboom setzte ein, nachdem Thomas Gottschalk in „Wetten, dass?“ Werbung für das Utensil gemacht hatte. Ein Kandidat wettete, dass er es schaffen würde, innerhalb von fünf Minuten 40 Katzen zu überfahren und mit dem Roadscraper® von der Straße zu kratzen. Studiogast Oliver Kahn sagte, das sei unmöglich, er habe da Erfahrung: „Die Biester sind einfach zu schnell, ich glaube nicht, dass er das schafft.“ Kahn verlor die Wette und musste zur Strafe in einem SOS-Kinderdorf Weihnachtsmann spielen. Später wurde er von einem Gericht wegen schwerer Körperverletzung zu zwei Jahren ohne Bewährung verurteilt. Eines der Kinder hatte ihn „Pannen-Olli“ genannt. Die Bild-Zeitung hatte auf Seite eins getitelt: „Weihnachts-Kahn dreht durch!“ Das dazugehörige Foto hatte gezeigt, wie der tollwütige Torwart-Titan in Weihnachtsmannkluft von mehreren kräftigen SEK-Beamten abgeführt wurde. Tim Ingold