Olga geht wählen

Olga Kharitonova machte Abitur in Tübingen, studiert jetzt in Konstanz und hat lange nicht mehr ukrainisch geredet. Doch eines Tages beschließt sie, wieder Ukrainerin zu sein. Sie nimmt ihren orangefarbenen Schal und fährt mit dem Wochenendticket nach München: Juschtschenko wählen

AUS MÜNCHEN PHILIPP MAUSSHARDT

Das schönste Weihnachtsgeschenk für Olga Kharitonova war ein orangefarbener Schal von ihrer Mutter. „Die Jahre hier in Deutschland hatten uns ein wenig auseinander gelebt“, sagt Olga, „aber auf einmal fühlen wir uns wieder verbunden.“ Olga ist 21 Jahre alt und Studentin der Verwaltungswissenschaften in Konstanz. Sie kam als 10-Jährige mit ihrer Mutter von Kiew nach Mössingen. Mössingen bei Talheim. Talheim bei Melchingen. Melchingen in Schwäbisch Sibirien. Es war ein kultureller Schock. Kiew besitzt 27 Theater. In Mössingen gibt es einen Gesangsverein.

Die junge Ukrainerin begrub sich unter einem Stapel von Büchern. Nur nicht den Kopf herausstrecken nach Mössingen. Von den rotgesichtigen Bauernköpfen der Nachbarn hat sie darum wenig mitbekommen, dafür lernte sie in wenigen Jahren ein gutes Deutsch, wie ich schon beim ersten Treffen in unserer Wohnung erfuhr. Da antwortete sie auf einen Satz von mir: „Es heißt nicht ‚größer wie‘, sondern ‚größer als‘.“

Ich bedankte mich.

Das beste Deutschabitur

Das Abitur an einem Tübinger Gymnasium beendete Olga vor eineinhalb Jahren mit dem Scheffel-Preis, die Auszeichnung für die beste Leistung im Fach Deutsch an der ganzen Schule. Seither studiert sie an der Universität Konstanz Politik und Verwaltungswissenschaften und finanziert sich ihr Studium als Verkäuferin in der Buchhandlung Osiander. Kein Kunde, der bei ihr seine Bücher bezahlt, käme je auf den Gedanken, dass ihm da jemand mit einem ukrainischen Pass in der Tasche das Geld abnimmt. So dialektfrei ist sie, so belesen in deutscher Literatur.

Die Ukraine war für Olga nur noch dort, wo die Großmutter wohnte. In einer großbürgerlichen Stadtwohnung mitten in Kiew, die sie untervermietete, um über die Runden zu kommen. Hin und wieder schickte die alte Frau ein wenig Geld nach Deutschland. In einem Brief schrieb die Großmutter vor kurzem, dass jetzt in ihrer Wohnung „Oligarchen“ wohnen – reiche Geschäftsmänner aus dem Osten der Ukraine, die Wiktor Janukowitsch wählen würden.

Dass dort, wo sie herkam, Wahlen sind, hat Olga Kharitonova auf diese Weise erfahren. Dann sah sie am schwarzen Brett der Uni vor ein paar Wochen ein kyrillsches Flugblatt vom Bund ukrainischer Studenten in Deutschland. Es war der Tag, als sie beschloss, wieder Ukrainerin zu werden.

Es hat sie sehr gerührt, dass ihre alte Babuschka in Kiew, von Oligarchen in der eigenen Wohnung umzingelt, heimlich kleine Zettelchen in die Briefkästen der Nachbarn warf, auf denen stand: „Wählt Juschtschenko!“ Da war es das Mindeste, dass Olga am 26. Dezember ein Wochenendticket der Bahn erstand und für 30 Euro von Konstanz zum Wahllokal nach München fuhr.

Der Bahnsteig 25 auf dem Ulmer Hauptbahnhof gleicht an diesem Tag zeitweise einem Sammelplatz für Fußballfans. Irgendwo musste ein Verein in Orange ein Auswärtsspiel haben. Auch Olga hat ihren Schal umgelegt und gerät schier aus dem Häuschen, wie viele Ukrainer ganz offensichtlich zwischen Alb und Schwarzwald versteckt leben, die nun alle auf den Regionalexpress nach München warten.

Als der Zug um 10.12 Uhr losfährt, spricht die Hälfte aller Fahrgäste jedenfalls ukrainisch. Im vordersten Wagen sitzen schließlich Sascha, Viktoria, Andrej, Olexandr und noch ein Dutzend weitere Landsleute von Olga zusammen und erzählen sich die neuesten Janukowitsch-Witze: Aus einem Laptop dudelt ukrainische Revolutionsmusik.

„Ich habe diese Dummheit nicht mehr ertragen“, sagt Andrej Kritenko, Schauspieler und Regisseur aus Stuttgart. „Vor einem Monat habe ich deshalb das erste Mal in meinem Leben gewählt. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich damit einen solchen Trubel auslöse.“ Noch bevor der Zug in Neu-Ulm das erst Mal hält, wird Schokolade der Marke Svitoch gereicht. Auch wenn sich hier das bestehende Qualitätsgefälle vielleicht am deutlichsten zeigt, alle loben den besonderen Geschmack. Ich auch.

Zwischen Nersingen und Augsburg-West erfahre ich viel über die Huzulen, ein kleines Karpatenvölkchen in den waldreichen Bergen und über Dowbush, den ukrainischen Robin Wood. Dass die Petroleumlampe bei Stanislaus (heute: Ivanofrankiwsk) erfunden wurde und im Café König von Chernivtsy (einstmals: Cernovitz) mehr als 105 Tageszeitungen ausgelegen haben. Damals, als Galizien noch zur österreichischen k. u. k. Monarchie gehörte, lebte man mitten in Europa. „Janukowitsch, dieser Dummkopf, schreibt ‚Professor‘ mit zwei f “, sagt Andrej Kritenko.

Olga läuft aufgeregt immer wieder durch den Zug und bringt neue Ukrainerinnen und Ukrainer ins vordere Wagenabteil. Die wenigstens kennen sich. Oleksandr, ein Elektroingenieur und seit zehn Jahren in Deutschland, schaut durch seine dicke Hornbrille und wundert sich: „So viele habe ich hier noch nie auf einem Haufen gesehen.“ Die Stimmung ist ausgelassen, als sich die orange Karawane vom Bahnhof durch das Türkenviertel zur Lessingstraße schlängelt. Andrej zeigt auf das Schild vom „Hotel Goethe“ – der türkische Besitzer hat in das O von Goethe einen Stern und eine Mondsichel gemalt: „Die sind angekommen in Europa“, sagt er „und wir sind noch auf dem Weg.“

Das Wahllokal liegt im dritten Stock eines Bürokomplexes. Vor einem Monat hatten hier 85 Prozent der Wahlberechtigten den prowestlichen Reformer Wiktor Juschtschenko gewählt, und an diesem Weihnachtstag sieht das Ergebnis nicht viel anders aus. Eine andere Prognose lassen die vielen Schals nicht zu.

Vor der Registrierung haben sich lange Schlangen gebildet, bis weit hinunter ins Treppenhaus. Im Foyer des Generalkonsulats steht Generalkonsul Dr. Waleri Stepanow in einem dunkelblauen Anzug und einer Krawatte, deren Streifen verdächtig nach orange aussehen. „Bitte deuten Sie das nicht falsch. Ich bin neutral und heute nichts anderes als ein ukrainischer Bürger.“ An der Wand ließ Stepanow die Wahlprogramme der beiden Konkurrenten aufhängen, lesen tut sie niemand.

München ist das drittgrößte Wahllokal außerhalb der Ukraine. 22.500 Wahlberechtigte leben im Einzugsgebiet, und damit liegt München gleich hinter Athen und Chisinau, der Hauptstadt der Republik Moldawien. Olga reiht sich ein zur Registrierung und hört, wie ein älter Frau neben ihr auf Andrej Kritenko, den Schauspieler schimpft: „Dein Gesicht gefällt mir nicht, du bist ein Verbrecher“, eifert sie, „du und diese orangenen Studenten. Ich habe noch in Russland studiert, aber ihr wollt alles besser haben. Ihr drängelt euch vor, nicht einmal warten könnt ihr.“

Olga lacht.

Mit dem lila Wahlzettel verschwindet Olga in einer der zehn Kabinen. Drei Kästchen sind zum Ankreuzen da. „Juschtschenko“, „Janukowitsch“ und „nepidtrymka zodnogo kandidata“ – also keiner von beiden. Es ist ihre erste Wahl im Leben. „Der Vorgang selbst ist ja eigentlich langweilig“, sagt sie danach, „aber es ist das erste Mal, dass ich das Gefühl habe, etwas für mein Land getan zu haben.“

Seit zwei Wochen ist Olga Vorsitzende des Bundes der ukrainischen Studenten in Deutschland, Sektion Konstanz. Eine Gruppe von zehn Mitgliedern. Tendenz steigend. Sascha und Nikolaj und Ljoscha gehören ebenso zur Gruppe und darum muss diese Wahl gefeiert werden. Das ukrainische Quartett bespricht vor dem Wahllokal das weitere Vorgehen: „Wir trinken auf die Demokratie im Augustiner“, sagt Nikolaj. Wenig später sitzen sie in der Münchner Brauereigaststätte, und Olga erinnert an Stefan Bandera, einen ukrainischen Nationalhelden, den die Sowjets im Oktober 1959 im englischen Garten in München ermordeten. „Alles ist aufgebrochen innerhalb von nur drei Wochen“, sagt Olga. Sie hat lange Zeit nicht mehr so viel ukrainisch geredet und muss immer mal wieder nach den richtigen Wörtern suchen. Nikolaj bestellt den zweiten Enzian. „Za demokratiju“, ruft er zum Erstaunen der bayerischen Tischnachbarn und „Za Juschtschenko!“