Nadelöhr nach Europa

Exodus aus Afrika, Teil 2: Die Enklave Ceuta Hunderttausende Afrikaner wollen nach Europa emigrieren, obwohl ihnen der Weg zur Festung Europa auf vielfältige Art verwehrt wird. In einer dreiteiligen Reportagenreihe beschreiben taz-Korrespondenten vor Ort die oft abenteuerlichen Wege, auf denen die Einwanderer die Sperren unterlaufen

AUS BEN YOUNECHREINER WANDLER

Der hagere junge Mann quält sich die gewundene Landstraße hoch. Auf dem Kopf trägt er ein großes Bündel von Lebensmitteln, eingewickelt in einen schwarzen Plastiksack. „Mohamed“, so stellt der sich der 22-Jährige nach einer kurzen Überlegen vor, ist auf dem Weg von Ben Younech, einem kleinen marokkanischen Fischerdorf unten an der Meerenge von Gibraltar hinauf in den Wald unweit der Grenze zur spanischen Enklave Ceuta. Die Garnisonstadt auf der anderen Seite eines drei Meter hohen Grenzzaunes ist für den jungen Mann aus dem westafrikanischen Gambia Europa – das Paradies.

„Seit sieben Monaten bin ich jetzt hier. Dreimal bin ich schon über die Absperrungen geklettert“, berichtet er auf Englisch. Aus dünnen Stämmen und Ästen hatte er sich jedes Mal eine Leiter gebaut. Im Dunkeln kletterte er hinauf und sprang auf die andere Seite. Doch nach dem Zaun kommt eine breite Asphaltpiste, die mit Infrarotsuchgeräten gesichert ist. Danach kommt ein zweiter Zaun. „Die Grenzer haben mich jedes Mal aufgegriffen und zurückgeschickt“, erzählt Mohamed. Aufgeben will er nicht. Solange er noch etwas Geld hat, will er hier ausharren und es immer wieder versuchen. „Wie sieht es in der Landwirtschaft in Europa aus? Findet man da leicht Arbeit?“, fragt er und erzählt, dass er seit dem neunten Lebensjahr mit seinem Vater Reis und Mais angebaut hat. Die Schule hat Mohamed nie besucht.

Ein Freund von Mohamed hat es bereits geschafft. Er kam über beide Zäune und lebte einige Zeit in einem Auffanglager in Ceuta. Abgeschoben konnte er nicht werden, da Spanien mit vielen schwarzafrikanischen Ländern kein Rücknahmeabkommen hat. Jetzt lebt er irgendwo auf der iberischen Halbinsel und verdient sich sein Geld mit allerlei Schwarzarbeit. „Er ruft mich immer wieder auf dem Handy an und fragt, wann ich nachkomme“, sagt Mohamed.

Es gibt auch einen andere Weg als den Sprung über den Zaun: Die nicht ganz ungefährliche Reise in einem kleinen Boot über die nur 14 Kilometer breite Meerenge von Gibraltar. Doch seit die Spanier mit EU-Geldern das so genannten Integrierte System für die Überwachung der Außengrenze (Sive) aufgebaut haben, wird das Durchkommen immer schwerer. Radar und Infrarot entdecken die pateras – so werden die kleinen Boote mit Immigranten an Bord in Spanien genannt – meist schon wenn sie in Marokko ablegen. Immer öfter tauchen Berichte auf, nach denen die Schleppermafias gar nicht mehr versuchen auf die andere Seite zu kommen. Sie kassieren ab und fahren die Immigranten einen Nacht lang auf dem Meer spazieren. Noch im Dunkeln setzen sie ihre Passagiere einige Seemeilen weiter an der marokkanischen Küste aus. Wenn es hell wird und die Immigranten merken, dass sie nicht in Spanien sind, ist der „Kapitän“ mit seinem Boot längst über alle Wellen. Mohamed hat erst gar nicht versucht eine Bootspassage zu finden. „Das kostet mindestens 1.500 Euro, und so viel Geld habe ich nicht“, sagt er.

Nach einer lang gezogenen Kurve bleibt der junge Mann einen Augenblick stehen. „Hier geht es in den Wald“, sagt er. Dann biegt er nach links auf einem schmalen Pfad. Es regnet. Der ansonsten harrte Boden hat sich in rutschigen, zentimetertiefen Matsch verwandelt. Immer tiefer geht es in den dichten mediterranen Wald, vorbei an einem gemauerten Trinkwasserreservoir. Vor einem Überlauf stehen junge Männer Schlange. Sie füllen Plastikkanister und verschwinden dann mit ihnen im Wald. Nach 15 Minuten erreicht der Fußweg den Talboden. Überall stehen Zelte aus Ästen und blauer Plastikfolie. Rauchfäden steigen zwischen den Bäumen auf. Mohamed zeigt den linken Hang hoch: „Dort leben die Nigerianer“, erklärt er. Weiter vorn die aus dem Kongo, weiter drüben die aus Liberia … Der ganze Schwarze Kontinent ist hier vertreten. Mehrere hundert Menschen warten hier auf den Sprung ins Glück.

Der Weg an Ceutas Grenze führt für die meisten durch die Sahara. Mohamed kam über Guinea, Mali, Burkina Faso, Niger und Algerien. Selbst nach Libyen hat es ihn ein ein halb Jahre verschlagen, bis er beschloss, doch nach Europa weiterzuziehen.

Die Menschen aus dem Senegal haben es am einfachsten. Sie kommen über Mauretanien und die von Marokko besetzte Westsahara hierher. Werden sie aufgegriffen, haben sie zumindest die ersten drei Monate nichts zu fürchten. Sie können als Touristen nach Marokko einreisen. Im Camp im Wald haben die Senegalesen das Sagen. Sie stellen die größte Gruppe, und sie können sich dank ihrem Touristenstatus frei bewegen. Wer aus anderen afrikanischen Ländern kommt, die mit Marokko keine Abkommen haben und sich nicht wie Mohamed ins Dorf traut, wird gegen einen entsprechenden Aufpreis von den Senegalesen versorgt. Zu Dutzenden ziehen sie jeden Morgen nach Ben Younech.

Seinen Namen will hier im Camp kaum einer nennen, auch nicht, wo er herkommt. So bleibt dem der afrikanischen Sprachen unkundigen Fremden nur ein Unterscheidungsmerkmal. Die einen antworten auf Französisch, die anderen auf Englisch, der Sprache der ehemaligen Kolonialmächte. Nur wenige haben Vertrauen zur Presse. Der Grund: Vor wenigen Wochen wurde im spanischen Fernsehen eine Reportage über die miserablen Lebensbedingungen hier im Wald ausgestrahlt. Am nächsten Tag kamen die marokkanische Polizei und Armee. „Sie umstellten das ganze Gebiet“, erzählt Mohamed. Mehrere dutzend gingen ihnen in die Fänge. Sie wurden nach Algerien abgeschoben. Mohamed selbst hatte Glück. Er war gerade im Dorf einkaufen. Ein Anruf auf seinem Handy warnte ihn. Er versteckte sich weiter weg im Wald.

Als sich die Lage beruhigte, kamen Mohamed und viele andere in das Camp zurück. Sie bauten ihre zerstörten Zelte wieder auf. Längst leben mehr Menschen im Lager als vor der Razzia. Selbst die ersten Abgeschobenen sind zurück im Wald an der Grenze zu Ceuta. Und sie träumen wie Mohamed vom endgültigen Sprung ins vermeintliche Paradies.