„Es ist vollbracht, nun sind wir frei!“

Bei so einem Andrang und so viel Korrektheit dauerte der Wahlabend bis zum frühen Morgen. Wiktor Juschtschenko rief seine Anhänger auf, wachsam zu bleiben

KIEW taz ■ Das Wahllokal Nr. 107 in der Uliza Nischenskaja, inmitten der Kiewer Studentenstadt, kann die Massen kaum fassen. Grüppchenweise werden die Abstimmungswilligen eingelassen. Um 20 Uhr belagern immer noch drei Dutzend junge Leute die Tische der Wahlkommission. „Wer hier ist, wählt jetzt auch noch“, verkündet die Vorsitzende streng und schließt die Tür ab. Fünfzehn Minuten später sind die zwölf Mitglieder der Wahlkommission – je sechs für Wiktor Juschtschenko und Wiktor Janukowitsch – und ebenso viele Beobachter unter sich.

Die Kontrolleure diskutieren miteinander. „In den USA verlaufen die Wahlen auch nicht demokratisch, doch dafür interessiert sich keiner“, sagt ein junger Mann. Die Kommissionsvorsitzende kontert: „Sie sollen beobachten und nicht reden.“

Jetzt werden die nicht benutzten Stimmzettel gezählt, die Ecken abgeschnitten, in einem Plastikbeutel verstaut und den Anwesenden präsentiert. Es sind 1.326, registrierte Wähler gibt es 3.981. Nach einigem Rechnen ist klar: Es müssen 2.599 Zettel in den Urnen sein. Dann werden die Tische umgestellt. Beide Seiten sitzen sich gegenüber, eine Frau beginnt zu zählen. Die ersten sechs Stimmen von Wählern, die zu Hause abgestimmt haben, erhält alle Juschtschenko. So geht es weiter. „Juschtschenko, Juschtschenko, Juschtschenko …, Janukowitsch.“ Der Juschtschenko-Stapel wächst. Die Minen gegenüber verfinstern sich. Die Auszählerin wird heiser. Nach anderthalb Stunden steht fest: 2.100 Stimmen für Juschtschenko, 375 für Janukowitsch, 103 gegen alle und 21 ungültige Stimmzettel. Tanja Wilschak, eine Studentin, die für Janukowitsch in der Kommission sitzt, lächelt. „Ich bin nicht enttäuscht von dem Ergebnis, schließlich wissen die Menschen jetzt, was sie wollen“, sagt sie. Was erwartet sie vom neuen Präsidenten? „Neue und bessere Gesetze für Studenten, vor allem höhere Stipendien.“

Während im Wahllokal die letzten Protokolle unterschrieben werden, haben sich auf dem Unabhängigkeitsplatz im Kiewer Zentrum Tausende eingefunden, um Wiktor Juschtschenko mit Musik und reichlich Alkohol zu feiern. Autos fahren hupend vorbei, aus Schiebedächern wehen orangene Fahnen, die Menschen zeigen das Victory-Zeichen. Immer wieder erschallt der Ruf: „Zusammen sind wir viele, uns kann nichts aufhalten!“ Die befürchteten Zusammenstöße mit Anhängern von Wiktor Janukowitsch bleiben aus.

Etwas abseits steht ein alter Mann. Er tänzelt leicht und lächelt. „Ich freue mich über den Sieg Juschtschenkos, doch die richtige Arbeit fängt jetzt erst an, Die alten Kader müssen ausgetauscht werden und die junge Generation muss ran.“ Vor allem müsse in den Gerichten richtig aufgeräumt werden.

Um halb drei in der Nacht betritt Wiktor Juschtschenko die Bühne. „Es ist vollbracht. 14 Jahre waren wir unabhängig, nun sind wir frei. Doch diesen Sieg müssen wir noch verteidigen“, schmettert er und fordert auf, so lange zu bleiben, bis der Sieg amtlich ist.

Im Stab von Wiktor Janukowitsch haben sich nur wenige eingefunden, viele kämpfen gegen die Müdigkeit. Dann tritt Janukowitsch auf. Wenn er die Wahl wirklich verliere, werde es eine starke Opposition geben. Er behalte sich aber vor, das Ergebnis anzufechten. Wenige Stunden später gibt Stepan Gawritsch, früheres Mitglied der Zentralen Wahlkommission für das Janukowitsch-Lager, Entwarnung. Sollten zwischen beiden Kandidaten mehr als zehn Prozent liegen, werde Janukowitsch mit Sicherheit auf einen Gang zum Gericht verzichten. BARBARA OERTEL