Hab Sonne im Kaffee

Braun werden im Kleiderschrank oder oben im KaDeWe: Wer Sonne will, muss sich bewegen. Meist heißt es Stühlerücken, nur auf dem Boulevard Hermannstraße sitzt man glücklich bis zum Sonnenuntergang. Ein Caféspaziergang, immer dem Licht nach

VON ANDREAS BECKER

Mitte November geht es jedes Jahr aufs Neue los. Das Haus gegenüber ist entweder höher geworden, oder die Sonne schafft es einfach nicht mehr über das Dach. Zunächst sind es nur die eigentlich winzigen Schornsteine, die für lange Minuten Schatten auf mein Bett werfen. Haben die eigentlich noch Kachelöfen, fragt man sich, könnte da nicht mal einer mit der Spitzhacke aufs Dach? In zwei Wochen wird man sich wünschen, die ganze obere Etage abzutragen. Zugleich hat man den naiven Gedanken, diesen Winter könnte alles anders laufen. Nur die im vierten Stock sind fein raus, die trifft es erst 10 Tage vor Weihnachten. Die netten Leute im Haus wohnen aber alle einen Stock unter mir – was soll ich da im Dezember im Dunkeln. Mir wurde sogar mal angeboten, meine Wohnung zu tauschen, weil im zweiten ein Balkon ist und bei mir im Dritten nicht. Ich bin doch nicht blöd, da ist schon im Oktober Ende.

Jetzt, es ist der 28. Dezember 11.24 Uhr, kommt die Sonne hinter einer Wolke raus, scheint in die hintere Ecke des Zimmers. Wenn ich mich in den Kleiderschrank setzen könnte, hätte ich ein kleines Solarium. Da ist es doch besser, mal vor die Tür zu gehen, man könnte sowieso mal eine Runde Rad fahren. Irgendwo einen Milchkaffee trinken, Zeitungen, die man nicht abonniert hat, durchgucken. Wenn es wirklich ein sonniger Tag sein sollte, versucht man natürlich, Sonne abzukriegen. Jetzt heißt es Gebäudeabstände und Höhen kalkulieren und abschätzen, in welchem Café um welche Zeit in welcher Ecke Sonne sein könnte.

In einem meiner Lieblingsorte, dem „Bateau Ivre“ am Kreuzberger Heinrichplatz ist die Lage ganz vertrackt. Im Sommer sitzt man hier im lauten Gedröhn gern an der Oranienstraße, im Winter hilft nur ein Spiegeltrick, um ein wenig mehr Licht zu bekommen. Wenn die Sonne auf das Gebäude gegenüber fällt, in dem die „Rote Harfe“ und der „Elefant“ sind, und die richtigen Leute ihre Fenster geputzt haben und nicht im falschen Moment schräg stellen, dann hat man Chance auf eine Viertelstunde Licht, das zwar nicht direkt, aber doch indirekt von der Sonne kommt. Dazu muss man natürlich früh da sein, um den entsprechenden Platz zu ergattern. Manchmal landet man dann neben doofen Pärchen, die sich exhibitionistisch verknallt gegenseitig Wurstscheiben in den Mund schieben. Manchmal ist auch ein relativ berühmter Schauspieler da, der schon mal testet, ob das Krombacher noch schmeckt.

Sollte man mittags gerade mal im Prenzlauer Berg rumhängen, bietet sich das „Schwarz Sauer“ in der Kastanienallee zum komplizierten Sonnenbaden an. Auch hier muss man strategisch vorgehen. Wo jetzt noch Schatten ist, könnte gleich Licht sein. In der rechten Ecke direkt am Fenster hatte man am 25. November Sonne bis ziemlich kurz nach halb eins. Der großen schönen Uhr unter der Decke nach verschwand die Sonne um 12.38 hinter dem rot-weißen Haus an der Ecke Oderberger Straße. Das müsste sich nach meinen Berechnungen etwa am 20. Januar so ähnlich verhalten. Dann wird man auch die große Wiederkehr der Sonne erleben. Denn exakt acht Minuten später taucht sie wieder auf, dann gibt’s kurz Schatten von einem stählernen Oberleitungsmast der Straßenbahn. Um 12.55 scheint sie prall ins Gesicht. Mit einigem Stühlerücken und gestrecktem Hals lässt sich diese zweite Sonnenphase bis 13.09 Uhr ausdehnen, bis zum endgültigen Sonnenuntergang. Sehr romantisch.

Relativ einfach, fast zu einfach, ist das winterliche Sonnenbad in hoch liegenden Cafés oder Restaurants wie dem eigentlich ziemlich schrecklichen KaDeWe SB-Restaurant im sechsten Stock. Hier riecht’s schon mittags nach vergorenem Rosenkohl und nach Hackbraten für Touristen. Vorn in der Dachgaube unterm rundlichen Stahldach überm Tauentzien ist die Aussicht prima, man kann sogar rauchen und mit Rentnern aus dem Siegerland über die tollen Seiten Berlins klönen. Waren sie denn schon im Reichstag? Ja, heute morgen: toll!

Wenn man davon genug hat, könnte man den nächsten Kaffee im recht versteckten Coffeeshop im ersten Stock des Esprit-Ladens am Europa-Center einnehmen. Mit gutem Blick zur Gedächtniskirche und den Ku’damm runter. Dann ließe sich noch ein Blick in die Rotunde vom Kranzler werfen. Aber die ist so trostlos, ohne echtes Kranzlerfeeling. Dann lieber zurück nach Kreuzberg, zu Karstadt Hermannplatz. Seit dem Ausbau gibt’s hier im Vierten ein Restaurant mit Dachterrasse, die im Winter natürlich zugesperrt ist. Nach all dem Espresso bekommen wir hier eine echte Tasse „Filterkaffee für 1,60“. Ein anderes Plakat vom Asia Point wirbt für ein Mittagsgericht mit „Lieber lecker als teuer“. Das Essen hier ist aber weder billig noch besonders lecker.

Aber die Sonne! Mit Blick auf den schmucken Boulevard Hermannstraße sonnenbaden die Menschen hier glücklich bis kurz vor Sonnenuntergang. Noch kurz vor Weihnachten war hier der Untergang erst gegen halb vier. Das ist mein persönlicher Rekord. Den schönsten Kommentar zum Sonnenuntergang gab unlängst ein schwarzer Kassierer eines Cafés. Da hinten sei Afrika meinte er, ich sah nur Neukölln.