Ab in die Tiefgarage

Giacomo Puccinis Oper „La Bohème“ ist am Stadttheater Bremerhaven in einer modernen Inszenierung des Intendanten Peter Grisebach zu erleben. Die Musik beeindruckt

Der Künstler als echt miese Verlierertype: Bohème anno 2004

Am Ende des 19. Jahrhunderts fand Giacomo Puccini in einer selbst- und welthungrigen Künstlerclique den Stoff für seine Oper „La Bohème“. Aber was interessiert anno 2004 noch an dem Herumhocken, Herumschwärmen, Herumdiskutieren, Drauflosleben? Peter Grisebach, Intendant des Stadttheaters Bremerhaven, mag sich für seine Inszenierung des Stoffes gedacht haben, alles müsse anders sein – und vor allem der süßliche Kitsch vermieden werden.

Also für die Inszenierung mit der Premiere am ersten Weihnachtstag um Gottes Willen keine Spitzweg-Idylle, sondern eine extrem kalte Betonwelt, kein heimeliges Dachzimmer, sondern ein Kellerloch, eine Art Tiefgarage mit auffahrbarem Gittertor (Bild: Marcel Zaba).

Im Inneren des zugigen Raums: Müll, Matratzen, Paletten, ein Kunstobjekt aus Steh- und Strickleiter (praktikabler Ersatz für die fehlende Sängertreppe). Puccinis Genre-Maler Marcello ist dort zum Objektkünstler avanciert, der Freund Rodolfo verfeuert sein Drama nicht im Ofen, sondern im Eisenfass – à la „West Side Story“.

Dass in diesem kalten Reich auch die Freunde innerlich längst erkaltet sind, erschließt sich richtig böse erst im letzten Bild. Dort entpuppen sie sich als echte Rumhänger, die in ihrer Hilflosigkeit vor allem cool wirken, die zwar tun, was das Libretto vorgibt, aber vor allem Gleichgültigkeit ausstrahlen.

Diese Jungs sind nichts als Verlierer, herzlose Penner in Jeans und Pullovern, auf keinen Fall Künstler, die verkörpern würden, was der Romanautor Henry Murger einst forderte: „Ein Leben der Geduld und des Mutes, hiebsicher gegen Dumme und Neider.“

Glücklicherweise kann die Regie Puccinis Musik nicht abschaffen. Wie die im kalten Pariser Winter die Herzen der Freunde und ihrer Frauen erwärmt, so erobert sie auch die Herzen des Bremerhavener Publikums.

Es ist die Sängerin Eun-Joo Park, die dem Abend nicht nur musikalischen Glanz verleiht. Sie verkörpert authentisch die Fremde, die Ausländerin, die möglicherweise illegal im Land lebt, und mit ihrer weiten, warmen, bis in die Höhen leichten und klaren Stimme gibt sie der sterbenskranken Mimi jene Zartheit und Sensibilität, die diese Musik unsterblich macht.

Grisebach lässt die Bohemiens häufig einfach stehen – und in schönen Posen, in fast eingefrorenen Figurentableaus singen. Es ist das Beste, was er machen konnte, denn auf diese Weise verlässt er sich ganz auf die Sprache der Musik.

Gegen jede Versuchung zum Zuckerguss lenkt Stephan Tetzlaff ein im Ton ausbalanciertes Städtisches Orchester, mit dem er die Farbigkeit und Transparenz der vielen kleinen musikalischen Impressionen genauso sicher herausarbeitet wie er die dramatischen Knotenpunkte anschärft und die melodramatischen Aufschwünge akzentuiert. So verleitet die musikalische Qualität des Abends dazu, vor den kalten Wänden und den kalten Kerlen einfach die Augen zu schließen.

Wie schön, dass Meister Puccini über dieses leere Bild siegt, denn seine Musik ist stärker als jede vordergründige Verweigerung: Sie zwingt den zu Tode erschrockenen Rodolfo zum Kniefall vor seiner gerade verstorbenen Mimi und der Beifall ist diesen Sängern und Musikern sicher. Hans Happel

weitere Vorstellungen: 30. Dezember 2004, 2., 16., 21., 26. und 29. Januar 2005