Glitzernde Marmorpartikel

Rolf Vollmann flaniert in „Akazie und Orion“ durch die Romanlandschaften Claude Simons

VON THOMAS STÖLZEL

Die Nobelpreis-Akademie überrascht die literarische Weltöffentlichkeit zuweilen nicht wenig. Dies gilt für die diesjährige Nominierung wie – wenn auch aus anderen Gründen – für diejenige vor 19 Jahren, als Claude Simon der Literaturnobelpreis zuerkannt wurde. Keines der Bücher des damals 72-Jährigen war zu diesem Zeitpunkt im deutschen Sprachraum mehr lieferbar. Die Werke Simons standen in dem Ruf, zwar außerordentlich eindrucksvoll, aber schwer zugänglich, ja sogar unverständlich zu sein.

Die Nobelpreis-Werbung brachte die Verlage jedoch dazu, die vergriffenen Bücher rasch neu zu drucken und bislang unübersetzte erstmals herauszubringen. Doch erst der DuMont-Verlag unternimmt den Versuch, diesen großen Avantgarde-Autor, welcher der experimentellen Gattung des Nouveau Roman zugerechnet wird, für den deutschsprachigen Leserkreis in seiner ganzen Bandbreite zugänglich zu machen. DuMont hat in den letzten sechs Jahren fünf Romane Simons herausgebracht; alle in geschmeidigen Erst- oder Neuübertragungen der versierten Übersetzerin Eva Moldenhauer.

Es ist daher erfreulich, dass sein deutscher Hausverlag jetzt auch ein Buch über Claude Simon veröffentlicht hat. Das Buch ist ein literarischer Begleiter, der auf lustvolle Weise Wege in die faszinierende und komplexe Welt eines der letzten noch lebenden Klassiker der literarischen Moderne eröffnet. Der Verfasser dieses Claude-Simon-Navigators ist Rolf Vollmann, vielen Lesern als passionierter und humorvoller Romanverführer bekannt; begabt mit der Fähigkeit, andere zur Lektüre anzustiften. In seinem Buch „Akazie und Orion. Streifzüge durch die Romanlandschaften Claude Simons“ kombiniert Vollmann verschiedene Zugangsweisen: Er legt ein Alphabet mit Zitaten und Kommentaren zu Leben und Werk Claude Simons an und geht dann chronologisch auf dessen sechzehn bisher auf Deutsch veröffentlichte Bücher ein. Seine mit leichter Hand geschriebenen Inhaltsangaben wirken dabei ähnlich inspirierend wie viele der Stichworte aus seinem Simon-ABC. Von „Abenddämmerung“ bis „Zusammenhanglosigkeit“ verzeichnet dieses Alphabet zentrale Themen und Motive des Lebens und Schreibens von Simon: Naturphänomene, Autorenkollegen und literarische Bezüge, Körperteile, Begriffe, Eigennamen, mythologische Figuren, Gemütsbewegungen, Metaphern und Gegenstände.

In der sehr persönlichen und launigen Zusammenstellung Vollmanns findet man etwa unter dem Buchstaben B Einträge zu den Stichworten: Badeanstalten, Badezimmer, Bambusbusch, Baudelaire, Bauwerk, Beinahe tot, Bergsee, Bericht, Beschreibung, Bewegung, Bildersaal, Blütenblatt, malvenfarben, Blütenblattfarben, Bomben, Bon Pasteur, Brennholz, Bridge, Bronze und Brüste. Meistens wählt Vollmann zu den jeweiligen Stichworten Zitate aus dem Werk Claude Simons, um dann daran Lektürebeobachtungen, biografische Informationen, Assoziationen und sogar eigene Träume anzuschließen, die er während seiner Beschäftigung mit Simons Büchern hatte. Die Anmerkungen Vollmanns orientieren sich dabei weniger an lexikalisch-literaturwissenschaftlichen Standards, sondern sind von unterschiedlicher Länge, Tonart und Güte.

Das wird nicht unbedingt jedermanns Sache sein und liest sich beispielsweise so: „Meeresoberfläche … Die Meeresoberfläche mit den weichen Glyzerinwellen, blass, farblos, im gleißenden Licht, wie von einem Film winziger, glitzernder Marmorpartikel überzogen (als würden die Winde über die Inseln mit den in weißes Licht getauchten Felsen, die zerbrochenen Statuen, die Säulen usw. streichen) … GEORGICA, 55 (57) – Neapel 1798, der General sieht am Morgen nach seiner Ankunft, nach einem Fest am Abend davor, aus dem Fenster; draußen auf diesem Meer (nur für ihn, für uns nicht) die Flotte Nelsons, von Abukir zurück, wo Nelson die halbe französische Flotte versenkt hatte.“

Entsprechend hat Claude Simon seine Leser mit nahezu mikroskopisch genauen Detailwahrnehmungen in gleicher Weise strapaziert wie bereichert. Doch nicht nur inhaltlich, auch formal wird einem bei der Lektüre seiner Bücher einiges abverlangt: Die Sätze mäandern, Differenzierung auf Differenzierung häufend, oft seitenlang dahin. Der Gewinn bei der Lektüre ist allerdings – bringt man die entsprechende Geduld und Konzentration auf – nicht zu unterschätzen. Seine Texte vermögen durch ungewöhnliche Perspektiven und eine manchmal fast brennende Intensität, die Wahrnehmungsweisen seiner Leser zu erweitern. Rolf Vollmann führt und verführt in seinen Streifzügen durch das dicht miteinander verflochtene Werk Claude Simons gleichermaßen; und viele der versammelten Zitathäppchen sind gut geeignet, sich eine intensivere Beschäftigung mit diesem großen Autor vorzunehmen.

Rolf Vollmann: „Akazie und Orion“, Streifzüge durch die Romanlandschaften Claude Simons. DuMont, Köln 2004, 400 S., 24,90 €