„Ich bin zur See gefahren“

KAPITALISMUSKRITIK Sein Theater polarisiert – der Regisseur Volker Lösch im Gespräch

■ Die Diskussion: Wird hier die Unterschicht ausgestellt? Oder die Wirklichkeit einer Stadt auf der Bühne gezeigt, die ihre sozialen Probleme sonst gerne verdrängt? ■ Die Inszenierung: „Marat, was ist unserer Revolution geworden“ hat Volker Lösch, 46, mit der Dramaturgin Beate Seidel und einem Ensemble aus Schauspielern und Laien am Hamburger Schauspielhaus inszeniert. Sie sorgte für größere Unruhe in Hamburg ■ Auf dem Theatertreffen in Berlin: wird sie am 17. und 18. Mai im Haus der Berliner Festspiele gezeigt. Mit ihr endet das diesjährige Festival. (Abschlußbericht folgt Anfang der Woche)

INTERVIEW KATRIN BETTINA MÜLLER

taz: Herr Lösch, was haben Sie am 1. Mai gemacht?

Volker Lösch: Geprobt. Verbotenerweise, da im Stadttheater am „Tag der Arbeit“ nicht gearbeitet werden darf. Wir haben die Stuttgarter „Medea“-Produktion für das Akzente-Festival in Duisburg vorbereitet und mit dem Chor der türkischen Frauen geprobt. Das ist erlaubt: Ich bin freiberuflich, die Frauen sind auch nicht am Theater angestellt. Abends habe ich dann die Krawalle im Fernsehen gesehen.

Sie sind mit Ihrer Inszenierung „Marat, was ist unserer Revolution geworden?“ zum Theatertreffen in Berlin eingeladen. Da artikuliert ein Chor von Hartz-IV-Empfängern seinen wachsenden Frust und verliest eine Liste der reichsten Bewohner Hamburgs. Glauben Sie, dass wir vor sozialen Unruhen stehen?

Überhaupt nicht, auch wenn das einige Damen und Herren für ihren Wahlkampf freuen würde. Die öffentliche Stimmung ist dafür nicht aufgeladen genug.

Was fehlt denn zu dieser Aufladung?

Während der Proben in Hamburg haben wir viel über Solidarität und die mangelnde Solidarität zwischen denen, die sich ausgegrenzt fühlen und die ausgegrenzt sind, geredet. Das ist die zentrale Frage. Wir haben es schon bei der kleinen Gruppe von 30 Leuten, die zu unserem Chor gehören, gemerkt, wie schwer es war, Solidarität herzustellen. Warum das in Frankreich, einem Land mit einer ähnlichen kapitalistischen Struktur so viel besser klappt als in Deutschland, das ist die große Frage. Ich glaube nicht an das Argument, Deutsche sind revolutionsunerfahren und von ihrer Mentalität her nicht dazu in der Lage.

Der Chor der Marat-Inszenierung tritt in einer sehr agitatorischen Form auf. Kokettieren Sie nicht auf der Bühne mit einem revolutionären Gestus?

Nein, das wird dieser Arbeit unterstellt von den Kritikern und letztlich als negativ angerechnet. Aber kokettieren ist mir persönlich komplett fremd, ich arbeite nie auf Wirkung bedacht. Ich habe in Hamburg studiert, bin von dort zur See gefahren, habe dort sechs, sieben Jahre gelebt. Ich wollte mit Menschen einen Theaterabend machen, die kein Geld zum Leben zur Verfügung haben, die unverschuldet in Armut leben. Inzwischen werden die Aufführungen im Schauspielhaus Hamburg von frenetischem Jubel begleitet, und der kommt aus dem Einverständnis der Zuschauer, dass man das Thema endlich in ihrer Stadt verhandelt: die große Diskrepanz zwischen Armen und Reichen in einer letztlich sehr reichen Stadt.

Schon bei den „Webern“ in Dresden arbeiteten Sie beim Chor mit Arbeitslosen …

Das wird immer kolportiert, ist aber nicht richtig. Der Chor besteht aus Dresdner Bürgern, er heißt ja auch Bürgerchor. Mit ihm haben wir die „Orestie“, die „Weber“ und die „Wunde Dresden“ inszeniert. Sieben Leute von denen waren arbeitslos, andere sind Rentner oder Angestellte. Daraus machte die Presse fälschlich einen Arbeitslosenchor. Durch Googeln und Abschreiben bilden sich da falsche Labels. Dabei spielen die Chöre auch immer Theaterfiguren.

Aber in die Texte der Chöre fließen doch Statements der Mitglieder ein?

Das wird so oft falsch beschrieben, als spielten sie sich selbst auf der Bühne. Authentisch sind aber nur die Texte: Das interessiert mich, Texte von Leuten zu haben, die ungefiltert antworten. Ohne Kunstabsicht, ohne einen Autoren, der dazwischensteht.

Der unverfältschte Blickwinkel von unten …

… und von außen. Wenn ich mit muslimischen Männern, wie zuletzt bei „Wut“ in Stuttgart, arbeite, ist das auch ein Blick von der Seite, aus einem anderen sozialen Milieu. Das ist abhängig vom Stück, vom Material. Mir fehlen diese Blickwinkel in der Theaterwelt – meiner kleinen und leider begrenzten Gesellschaft –, von daher die Not und die Lust, sich mit Dingen von außen anzufüttern.

Die Arbeit mit Laien ist also eine Kur gegen Erfahrungsmangel?

Bevor ich zum Theater kam, hatte ich andere Berufe und habe von daher einen unverstellteren Blick auf das Theater mitgebracht. Ich war oft empört, wie Gelder für allen möglichen Kram ausgegeben werden, wie viel produziert wird, was nichts mit dem zu tun hat, was die Menschen in der Stadt umtreibt.

Was kam Ihnen von Ihren früheren Berufen zugute?

Die Internationalität beispielsweise. Ich habe Ozeonografie studiert, ich bin zur See gefahren, ich habe Surfbretter gebaut, gejobbt und mich in der Welt umgesehen. Das war ein dringendes Bedürfnis. Davon profitierte ich die ersten Jahre als Schauspieler und Regisseur, bis ich so fünfunddreißig war: Da waren nur noch Probebühnen, staubige Texte, keine Inspiration, kein Input mehr von außen. Da musste ich entscheiden: entweder vier Jahre Pause machen – aber wie soll das gehen mit Familie und ohne Geld? – oder einen Weg finden, das Theater anzukoppeln an die Welt, in der es steht.

Der Marat-Chor strahlt auch eine gewisse Militanz und Radikalität in seinen Auftrittsformen aus. Wo sehen Sie da eine Entsprechung in der Realität?

Radikalität und Militanz werden durch das Stück vorgegeben: Für die Inszenierung haben wir die uns erarbeitet, das war ein spannender Prozess. Laien, die das erste Mal auf der Bühne sind, fragen sich: Wie weit können sie gehen? Lautes Sprechen, Schreien, Dinge kaputt machen, sich ausspielen auf der Bühne: Für viele ist diese Erfahrung neu. Das Theater ist ein Gedankenraum, in dem zum Glück die Frage erlaubt ist: Was würde ich machen, so ich ungestraft morden dürfte, was passiert dann mit mir? Das beinhaltet die Beschreibung einer Möglichkeit von Militanz. Frau Schwan redet ständig von sozialen Unruhen. Sie sollte lieber mal über die Möglichkeit nachdenken, was da zu aktivieren wäre, wenn die Unzumutbarkeiten größer werden. Das wäre viel wichtiger als das Gerede von „Es kann soziale Unruhen geben“. Was wir machen, ist bestenfalls eine produktive Drohung.

Erreicht die denn den Adressaten?

Wenn in der Hamburger Bürgerschaft darüber diskutiert wird, ob die Vermögensteuer wieder eingeführt werden soll und dabei auf unseren Abend hingewiesen wird … mehr kann Theater nicht erreichen.

„Ich wollte mit Menschen einen Theaterabend machen, die kein Geld zum Leben zur Verfügung haben, die unverschuldet in Armut leben“

VOLKER LÖSCH

Beim Theatertreffen sind Sie in vielen Diskussionen und Interviews als Repräsentant eines politischen Theaters gefragt. Fühlen Sie sich in dieser Position wohl?

Ja, es ist okay, außer dass es von der Arbeit ablenkt. Ich bereite gerade „Nachtasyl“ vor. Was mich überrascht, ist, wie viel vor allem über meine Chorarbeiten geredet wird, über andere Inszenierungen dagegen weniger. Offensichtlich muss ich zur Kenntnis nehmen, dass eine gewisse Brachialität mancher Chorszenen die Wahrnehmung so vernebelt, dass ich damit in ein bestimmtes Raster eingelegt werde.

In Stuttgart haben Sie „Wut“ inszeniert. Warum gerade da?

Das liegt auf der Hand. Stuttgart hat 25 Prozent Ausländeranteil, die Stadt ist durchmischt von Menschen mit Migrationshintergrund. Meine Erfahrung ist, dass wir mit ihnen keinen Kontakt haben. Wir kennen sie nicht, auch wenn wir ihnen täglich begegnen. Um uns da besser kennenzulernen und um auch an andere Zuschauer ranzukommen, die einen großen Respekt vor den heiligen deutschen Kunsthallen haben, hatten wir vor zwei Jahren „Medea“ gemacht und jetzt „Wut“. Die Gruppe der jungen Männer hat mich sehr interessiert, die mit viel Energie, viel Lebenswillen, viel Kraft in die Gesellschaft rausgehen und mit 17, 18 Jahren jäh gestoppt werden. Alles versandet: weil sie keine Möglichkeiten haben, eine Ausbildung zu machen oder, wenn sie die haben, einen Job zu kriegen. Das erzeugt ein enormes Gewaltpotenzial. Da muss ich in Berlin gar nicht drüber reden. In Stuttgart geht’s auch langsam los. Wir wollten wissen, ob die überhaupt Lust haben, mit uns zu reden, und waren erstaunt, wie die in den ersten Gesprächen schon aufgeblüht sind, es aus ihnen raussprudelte. Wir mussten gar keine Fragen mehr stellen. Da gibt es ein großes Bedürfnis, sich zu artikulieren.

In „Wut“ geht es auch um die Rolle eines jungen Mannes, der eine Familie terrorisiert. Hatten Sie keine Angst, da mit einem Chor migrantischer junger Männer ein ausländerfeindliches Klischee zu bedienen?

Dass man sagt, Ausländer sind Schläger?

Als Chor treten die ja schon als Gang auf.

Im Chor ist zwar die Gang drin, aber auch das Kollektiv und die Einzelstimmen. Und man sieht jeden Einzelnen sehr genau, das ist keine dumpfe Masse. Dem Klischee vom Ausländer wird, glaube ich, wesentlich stärker entsprochen, wenn ich mir von der ZBF, der Zentralen Vermittlung für Bühnenkräfte, einen Schauspieler geholt hätte, der das Drehbuch abspielt. Aber die Verzweiflung der jungen Männer zeigt sich über ihre alltäglichen Geschichten viel genauer.