BERNHARD GESSLER STETHOSKOP
: Das süße Gift des Hausbesuchs

Für die Kohle, die wir für einen Hausbesuch erhalten, würde kein Handwerker sein Auto aus der Garage fahren

Machen Sie auch Hausbesuche?“ Diese Frage steht bei neuen PatientInnen oft am Anfang der ersten Konsultation. Meine Antwort wird mit einer gewissen Spannung erwartet, entscheidet sich doch hier, ob man den neuen Doktor zu seinem Hausarzt erwählt oder nicht.

Theoretisch und traditionell kann ein Hausarzt nicht zögern, diese Frage zu bejahen. Der Hausbesuch ist ja schon in unserer Berufsbezeichnung angelegt. Und schon im hippokratischen Eid heißt es: „In wie vielen Häusern ich auch einkehre …“ Weniger bekannt ist jedoch, dass dieser Eid kaum jemals von Ärzten geschworen wurde – doch davon ein anderes Mal mehr. Gleichwohl kenne ich Hausärzte – Allgemeinmediziner und hausärztlich tätige Internisten –, die fast gar keine Hausbesuche machen.

Warum tun sich denn so viele Hausärzte schwer mit Hausbesuchen? It’s the ecomy, stupid! Die traurige Wahrheit ist, dass von „freiberuflich“ tätigen, also niedergelassenen Ärzten erwartet wird, dass sie wirtschaftlich kalkulieren. Ich schreibe es ja nicht gern, aber es bleibt trotzdem wahr: Für die Kohle, die wir Hausärzte für einen Hausbesuch erhalten, würde kein Handwerkermeister seinen Renault Kangoo aus der Garage fahren.

Trotzdem machen wir Hausärzte Hausbesuche. Am Anfang ist das ja auch noch recht spannend und aufschlussreich, man erfährt viel über die sozialen und familiären Verhältnisse der PatientInnen. Der Eintritt in die Wohnung eines Patienten ist oft auch ein Einblick in tiefere Schichten seiner Persönlichkeit. Und wie Arm und Reich in Deutschland aussieht, sich anhört und riecht – davon kann jeder Hausarzt ein plastisches Bild malen. Auch deswegen machen wir Hausbesuche.

Trotzdem gleicht es einem süßen Gift. Für die in der Regel älteren PatientInnen bedeutet es Entlastung, ein wichtiges soziales Ereignis und ein – trügerisches – Sicherheitsgefühl. Denn was läuft bei einem Hausbesuch? Blutdruck messen und meist eine symptomorientierte Untersuchung. Aber keine Sonografie, keine Lungenfunktion, kein Belastungs-EKG, keine Langzeit-Blutdruckmessung und nur selten Blutabnahmen. Was bleibt, ist die psychologische Komponente: die „Droge Arzt“. So wie der belgische Kollege, der auf seiner Hausbesuch-Tour mit dem Fahrrad durch Gent auch bei meiner Großmutter vorbeifährt. Nach dem Messen des Blutdrucks und der Inspektion der Zunge murmelt er: „Het is alles in ordre, Madame.“ Etwas muss doch dran sein an Hausbesuchen: Bonne maman wird im Juli 103 Jahre alt.

■ Der Autor ist Internist in Rastatt Foto: privat