Schnee

Im Koma. 8. Preis des Schreibwettbewerbs „Ein Wintermärchen“

von ANJA JOSEFINE SCHANZ

Sie wusste nicht, wie sie an diesen Ort gekommen war, noch erinnerte sie ihren Namen. Sie lebte in einem weißen Haus, das sich auf Stelzen über hellem Sand erhob. Unweit des Hauses schwappte das Meer träge gegen den Strand. Der Himmel senkte sich scheebauchig herab. Sie liebte Schnee. Sie liebte den Geruch seiner Ankündigung in der Luft.

Ein Glas Tee in der Hand, setzte sie sich an den Tisch und wartete. Die Zeit verstrich in fast vollkommener Stille. Nur der ferne, verschleppte Applaus der Wellen drang ab und zu herauf. Dann begann es: Erst trieben sie vereinzelt, später in Scharen, schließlich in Tausendschaften gegen die Scheiben, ertranken im Wasser und überzogen den Strand. Sie öffnete das Fenster und fing die Flocken mit der Zunge auf, wie sie es als Kind getan haben mochte, und sie schüttelte lachend die Tropfen aus den Haaren. Sie fror nicht. Sie stand in der hereinwehenden Kälte mit bloßen Füßen und einem weißen Nachthemd, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Erst, als das Schneetreiben etwas nachgelassen hatte, schloss sie das Fenster wieder und hob den Kessel mit der geschwungenen Tülle vom Herd.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie sein schaukelnder Schatten an der Wand zu wachsen begann und mit ihm diese plötzliche Empfindung an den Beinen. Sie spürte ein kratziges, warmes Reiben an den Schenkeln. Abrupt wurde sie in die Höhe gerissen und griff reflexhaft in staubige Hautfalten. Erst, als sich die Sandwirbel gelichtet hatten, erkannte sie in dem sich aufrichtenden Felsen einen Elefanten, der sich mit ihr auf ein flackerndes Licht in der Ferne zubewegte. Ein Licht, das immer größer wurde und alle Konturen verschlang. Sie fühlte, wie auch ihr eigener Umriss sich darin aufzulösen begann. In der warmen Luft sirrten Stimmen und Gerüche nach frischer Wäsche, dem Salz des Meeres, Lindenbäumen, regennassem Asphalt, die in ihre Poren drangen wie etwas Altvertrautes.

Als sie darüber müde wurde und sich auf den borstigen Kopf des Elefanten stützte, empfing sie plötzlich ein immer schriller werdendes Geräusch, das rhythmisch die Luft zerriss. Es zerrte sie vom Rücken des Elefanten herunter in den roten Sand, der den Saum ihres Nachthemdes färbte wie frisches Blut. Dann spürte sie den Schnee. In der Ferne wartete ihr Haus, aus dessen Ritzen dieses Klingeln nach ihr schrie. Sie rannte hinein. Auf dem Herd hockte der Kessel, auf dessen blankem Bauch ihr Spiegelbild aufleuchtete. Sie lief weiter, über den Flur. Durch den Spalt der Schlafzimmertür erblickte sie wieder sich selbst, blass und schlafend auf gestärkten Kissen.

Hinter der letzten Tür am Ende des Flures hockte ein Mädchen inmitten eines Durcheinanders an Spielzeugen, die den Boden übersäten. Es streckte ihr ruhig einen Telefonhörer entgegen.

Na endlich, Anna, da bist du ja, flüsterte es, den Blick unverwandt auf sie gerichtet.

Das Gehen fiel Anna auf einmal unendlich schwer, sie watete durch Teddybären und Puppen, als ob sie gegen einen starken Sturm zu kämpfen hätte. Zum ersten Mal seit langem spürte sie ihren Körper wieder – dort, wo das Mädchen ihr die Hand auf die Schulter legte. Dann ging sie unter dem Druck in die Knie und fiel. Und während sie fiel, gewann sie Stück für Stück ihren Körper zurück.

Es begann mit einem Kribbeln in den Füßen, das sich zu einem Zucken in den Beinen auswuchs, es pochte in ihrer Brust, und ein stechender Schmerz jagte durch ihre Arme. Schließlich flatterten ihre Augenlider wie zwei junge Vögel.

Als sie die Augen aufschlägt, stürzt eine Lawine aus Farben, Licht, Gerüchen und Stimmen auf sie ein. Sie fürchtet, unter dieser plötzlichen Wucht zu ersticken. Verzweifelt tastet ihr Blick nach einem vertrauten Bild. Nur mit großer Mühe gelingt es ihr, die Bedeutung der starren und bewegten Formen um sie herum zu entziffern. Sie spürt dünnen Stoff auf ihrem Körper. Ein Schlauch führt aus ihrem Mund zu einer blinkenden Maschine. Ihre Arme hängen an Kabeln, die mit einer umgedrehten Flasche über ihrem Kopf verbunden sind. Etwas Schweres, Heißes liegt auf ihren Beinen.

Zuerst sieht sie nur den braunen Umriss, dann erkennt sie den groben Stoff einer Anzugjacke. Über dem Kragen glänzt ein schwarzer Haarschopf wie ein erschöpfter Maulwurf. Plötzlich dreht sich ein Männergesicht zu ihr um, unerträglich nah rücken seine fremden, ungläubigen Züge. Als er aufspringt und davonstürzt, wendet sie erleichtert ihren Blick zum Fenster. Ihr ist heiß. Sie spürt ihren kräftigen Herzschlag, der eine tiefe Empfindung an die Oberfläche drängt: Sie sehnt sich nach Frieden und einem allumfassenden Aufgehobensein.

Dann nimmt sie den Geruch wahr, den die kalte Luft durch das geöffnete Fenster hereinträgt. Den stumpfen, frisch gewaschenen Duft von Schnee. Geräuschlos treibt er gegen die Scheibe. Sie erinnert sich daran, wie sie als Kind durch das glitzernde Weiß stapfte, wie sie händeweise Schneehauben von den Zweigen schaufelte und sich in den Mund schob in der Erwartung, sie schmeckten nach Zucker. Wie ihr Vater geduldig ein Iglu für sie baute und gleich daneben eines für ihren Hund. Sie erinnert sich, wie sie später mit ihren Langlaufskiern durch diese bläuliche Stille glitt und wie hoffnungsvoll sie sich dabei gefühlt hatte.

„Frau Lind! Willkommen zurück im Leben! Können Sie meine Hand drücken? Sie hatten einen Unfall und lagen eine Weile im Koma. Können Sie mich verstehen?“

Anna nickt.