„Wir alle sind Geiseln einiger Menschen“

Der serbische Menschenrechtsminister Rasim Ljajić spricht sich für die Auslieferung mutmaßlicher Kriegsverbrecher aus

taz: Warum werden die mutmaßlichen serbischen Kriegsverbrecher nicht verhaftet und an das UNO-Tribunal in Den Haag ausgeliefert?

Rasim Ljajić: Die serbische Regierung versucht, die Angeklagten zu überreden, sich freiwillig zu stellen. Das wäre die beste Lösung, denn so würde man die Gefahr möglicher Erschütterungen im Lande vermeiden.

Die Angeklagten wollen sich aber nicht stellen. Würde die Verhaftung vermeintlicher Kriegsverbrecher die Sicherheitslage Serbiens tatsächlich gefährden, wie die Regierung behauptet?

Das glaube ich nicht. Doch die Verhaftung der Angeklagten würde die serbische Minderheitsregierung automatisch zu Fall bringen. Sie wird von den Sozialisten des Den Haager Häftlings Slobodan Milošević unterstützt, die ausdrücklich gegen die Verhaftung und Auslieferung der Angeklagten an das UNO-Tribunal sind.

Die zwangsweise Auslieferung der Angeklagten würde zu vorgezogenen Wahlen führen. Das wiederum würde die Verabschiedung der neuen Verfassung Serbiens und sowohl alle politischen und wirtschaftlichen Reformen als auch die Zusammenarbeit mit dem Tribunal für mehrere Monate lahmlegen. Während des Wahlkampfes würde es ganz sicher niemand wagen, die wegen Kriegsverbrechen angeklagten „serbischen Helden“ zu verhaften.

Warum nicht?

Weil die überragende Mehrheit der serbischen Bevölkerung leider immer noch gegen die Zusammenarbeit mit dem UNO-Tribunal ist. Während des Wahlkampfes die „serbischen Helden“ zu verhaften, würde für einen serbischen Politiker heißen, politischen Selbstmord zu begehen. Und in Serbien finden andauernd Wahlen statt, vierzehn seit 1990.

Wir haben bisher die Chance versäumt, uns mit der Vergangenheit und den angeblich im Namen des serbischen Volkes begangenen Verbrechen auseinander zu setzen. Seit der Wende in Serbien im Oktober 2000 hat sich niemand systematisch mit der bitter nötigen Vergangenheitsbewältigung befasst.

Zeigt die internationale Gemeinschaft Verständnis für diese Probleme der serbischen Regierung?

Immer weniger. Wenn drei wegen Kriegsverbrechen angeklagte serbische Generäle frei in Belgrad leben, öffentlich auftreten und sogar Drohungen aussprechen, dann verliert die Regierung natürlich an Glaubwürdigkeit. Sie schaden sich selbst und dem Staat. Wer wird uns denn glauben, dass wir keine Ahnung haben, wo sich der bosnisch-serbische General Ratko Mladić und dreizehn andere Angeklagte aufhalten, wenn wir die international steckbrieflich gesuchten Personen, die sich gar nicht verstecken, nicht verhaften.

Hat das Folgen für die internationale Lage Serbiens und Montenegros?

Gewaltige. Die Zusammenarbeit mit dem UNO-Tribunal ist die wichtigste Bedingung der internationalen Gemeinschaft für weitere europäische Integrationsprozesse der serbisch-montenegrinischen Staatengemeinschaft. Wenn Serbien nicht bald die Angeklagten verhaftet, dann können wir die Verhandlungen über den Beitritt zur EU und der Partnerschaft für den Frieden für lange Zeit vergessen. Die ansonsten positiven Ergebnisse der wirtschaftlichen und politischen Reformen werden wir dann nicht verwerten können. Wir alle hier sind Geiseln einiger Menschen, denen früher oder später der Prozess wegen vermeintlichen Kriegsverbrechen vor dem UNO-Tribunal gemacht werden wird.

INTERVIEW: ANDREJ IVANJI