„Schön, dass Sie leben“

Nach 59 Jahren des Zauderns hat Loris Vincenzi, der als ehemaliger italienischer Zwangsarbeiter im U-Boot-Bunker Valentin arbeiten musste, jetzt ganz privat wieder einen Fuß nach Deutschland gesetzt. Der 80-Jährige besuchte den Ort des Grauens, den Bunker in Farge, wo viele seiner Leidensgenossen damals das Leben verloren. Eine Entschädigung hat Vincenzi nie erhalten

Es ist kalt in diesen Tagen in Norddeutschland, nasskalt und grau. „Schmuddelwetter“ nennen das die Einheimischen. Eine Verniedlichung, die hier, am nördlichen Rande Bremens, im Angesicht des Betonkolosses „Bunker Valentin“, geradezu grotesk erscheint. Abstoßend, kalt und grau – irgendwie harmonisch zum Wetter passend steht er da. Unweigerlich drängt sich die nächste Groteske auf, denn in solchen Situationen sagt man bei uns „wie bestellt“ und meint damit, dass das Wetter das ideale Ambiente bietet. Ein menschenverachtender, bestialischer Krieg sollte mit Hilfe dieses grotesken Bunkers doch noch gewonnen werden. Tausende Zwangsarbeiter mussten dafür hier ihr Leben lassen. Kaum einer der überlebte, möchte sich dieses „Ambiente“ noch einmal antun.

Loris Vincenzi ist einer, der es dennoch wagt. 59 Jahre hat es gedauert, bis er, heute 80 Jahre alt, sich überwinden konnte, wieder hierher zu kommen. Die Tochter von Freunden hat in Bremen studiert und lebt seither hier. Sie habe ihn überredet: „Ich wollte nie wieder deutschen Boden betreten. Aber sie hat gesagt, dass es heute ein anderes Deutschland sei, dass es sich lohne zu kommen. Ich habe es ihr versprochen und jetzt bin ich hier.“

Im September 1943, unmittelbar nach dem italienischen Frontenwechsel, wurde Loris Vincenzi zur Zwangsarbeit nach Norddeutschland verschleppt. Die ersten Monate verbrachte er in einem Lager im Landkreis Aurich. Im Frühling 1944 kam er für zwei Monate nach Bremen-Farge, gezwungen, am Bau des Bunkers zu arbeiten.

Zusammen mit seiner Frau schreitet er den langen Weg an der Längsseite des Baus ab, aber es geht nur sehr langsam voran. Der kalte Wind peitscht dem kleinen, rundlichen Mann den feinen Nieselregen ins Gesicht, immer wieder muss er seinen Hut festhalten. „Madonna Loris, che brutto – wie hässlich“, wiederholt Piera, seine Frau, gebetsmühlenartig. Fast scheint sie ein wenig überfordert zu sein, denn seit 59 Jahren bestimmte die Zeit als Zwangsarbeiter die Lebensgeschichte ihres Mannes – und damit auch ihre. Jetzt sind sie beide an jenem Ort, der ihre Ehe geprägt hat. Jetzt sind es keine Erzählungen mehr. Es ist eine Art Premiere, eine auf die beide so lange gewartet haben.

Wenn er etwas sagen möchte, muss Loris stehen bleiben, um mit seiner Stimme gegen den Wind und das laute Rauschen der mächtigen Linden anzukämpfen. Aufgewühlt holt er dann tief Luft und wird laut: „Das Schlimmste war der Hunger“, sagt er. „Wenn jemand von den Strapazen zusammengebrochen ist, haben sie ihn einfach zubetoniert.“ – „Madonna“, erwidert Piera. In diesem Rhythmus geht es weiter bis zum Nordende des Bunkers. Dort biegt der Weg links ab und wie aus dem Nichts steht man plötzlich vor dem Schleusenbecken der Bunkerwerft.

Hier bleibt Loris stehen und wird wieder laut, noch lauter als bisher: „Hier war es. Hier wollten sie die U-Boote rauslassen. Hier, genau hier!“ Loris weiß, dass niemals ein U-Boot hier gebaut wurde. In der Zeit, in der er hier arbeitete, war der Bau noch nicht einmal zur Hälfte fertig. Aber das Schleusenbecken wirkt nun, nachdem er mit Piera die monotone Längsseite des Bunkers entlanggeschritten ist, wie eine Art Bestätigung – jeder der es sieht, kann sich vorstellen, wozu es dienen sollte.

Ein Paar, das hier in der Umgebung wohnt, ist auch anwesend und blickt ungläubig in diese monströse Öffnung des Kolosses. Unvermittelt geht Loris auf die beiden zu und spricht sie an. Wieder wird er laut, wild gestikulierend, aufdringlich, fast anklagend: „Ich musste hier arbeiten, ich, ja ich! 59 Jahre ist es her. Gefangener war ich, gezwungen wurde ich.“ Die beiden verstehen kein Italienisch und Loris kann kein Deutsch, aber es ist allen klar, worum es geht. Die Frau nimmt Loris einfühlsam in den Arm: „Schön, dass Sie leben.“

Loris bricht in Tränen aus und weint schluchzend wie ein Kind. „Wir wohnen seit Generationen hier in der Nähe. Unsere Großeltern haben versucht, den Zwangsarbeitern so gut es eben ging zu helfen, haben ihnen immer wieder etwas zu Essen über den Zaun geworfen. Aber es war schwierig, denn sie brachten sich dadurch selbst in große Gefahr“, erklärt der Begleiter der Frau, die Loris immer noch tröstend im Arm hält. „59 Jahre… ich war hier als Gefangener“, sagt Loris immer wieder. Piera ist die ganze Situation eher peinlich, aber sie wirkt zufrieden. Zufrieden, weil Loris es jetzt auch ist. In den Arm genommen zu werden, von Nachfahren jener Leute, die ihm das angetan haben – darauf hat er 59 Jahre lang gewartet.

Eine Entschädigung hat Loris, wie alle anderen italienischen Zwangsarbeiter, nie erhalten. Dabei zählten die italienischen „Verräter“ zu den am stärksten diskriminierten NS-Zwangsarbeitern. „Schlimmer als wir wurden nur die Russen behandelt“, erinnert sich Loris. Bis August 1944 galten verschleppte Italiener nicht als Kriegsgefangene sondern als „Militär-Internierte“. Damit wurde ihnen der Schutz der Genfer Konvention verweigert. Danach wurden die Italiener in zivile (Zwangs-)Arbeitsverhältnisse überführt und unterstanden somit allein den jeweiligen Firmen. Nach Interpretation des Bundesverfassungsgerichts waren die Italiener aber de facto nie etwas anderes als Kriegsgefangene – und die seien vom Stiftungsgesetz für ehemalige Zwangsarbeiter nun mal ausgeschlossen. Ein bitterer Hohn für die Betroffenen, wenn man überdies bedenkt, dass etwa polnische Kriegsgefangene durchaus Geld aus der Stiftung erhalten haben.

Loris Vincenzi braucht jetzt keine Entschädigung mehr. Es sei ihm ohnehin nicht um das Geld gegangen, sondern um eine Geste der Entschuldigung, um eine Anerkennung für jene Jahre der Qualen, die sein Leben bis heute geprägt haben. Eigentlich wollte er an der Pforte den Bundeswehrbeamten fragen, ob es möglich wäre, das Innere des Bunkers zu besichtigen. Aber auch das möchte er jetzt nicht mehr. Er hat heute schon mehr erreicht, als er sich erhofft hatte.

„Sei contento Loris – bist Du zufrieden?“, fragt Piera. „Si, adesso sono contento“, antwortet Loris. Mittlerweile hat die Sonne es sogar geschafft, sich gegen das Wolkendickicht ein wenig durchzusetzen. Loris möchte gehen. In den nächsten Tagen möchte er mit Piera nach Bramsche fahren. Nach seiner Zeit in Farge arbeitete er bis zum Kriegsende dort und im benachbarten Hesepe auf Flugplätzen, von denen aus die V1 nach England geschossen wurde. Christian Wilhelm