Laufen nach dem Saufen

Der Neujahrslauf des Berliner Sportvereins SCC ist der erste echte Test für die frisch gefassten guten Vorsätze. Teilweise wild kostümiert joggten 3.900 Teilnehmer jeden Alters quer durch Mitte. Hetzen gilt nicht, denn Sieger gibt es keine

René steht mit einer Flasche Sekt an einer Bar vorm Brandenburger Tor und reibt sich verzweifelt die Stirn. Teilnahmslos guckt er rüber zum Pariser Platz und nimmt dabei einen Schluck aus der halb leeren Flasche. Dort laufen die Vorbereitungen für den 34. Berliner Neujahrslauf auf Hochtouren, um 12 Uhr soll der Startschuss fallen: „Is ja schön, man kriegt durch Laufen den Kopf frei. Aber wenn du mit so ’nem Speicher läufst, das haut nich hin.“ René kann sich nicht erinnern, was in der vorigen Nacht passiert ist und auch nicht, warum sein Geldbeutel weg ist.

Während er grübelt, herrscht auf dem Platz vor dem Tor beste Stimmung. Trikots werden angelegt, Hundegeschirre zurecht gerückt und Startnummern befestigt. Die Teilnehmer sind beim Aufwärmen. Alle Altersklassen sind vertreten, und sogar alle scheinen gut gelaunt, gesund und fit zu sein. Aus den Lautsprechern singt eine Frauenstimme: „I’m horny, horny, horny, horny!“ Die vielen Zuschauer wippen im Takt. Hans Peter und Peter sind 67 beziehungsweise 72 Jahre alt. Sie sind eingefleischte Läufer. „Man muss das neue Jahr gleich mit guten Vorsätzen beginnen“, sagt Peter, der eine grüne Vogel-Perücke auf dem Kopf trägt. „Wenn man da schon sagt: Heute mach ich nicht mit, dann läuft man das ganze Jahr nicht mehr.“

Neben ihm steht eine Dame mittleren Alters mit einem seltsam anmutenden Kleid: „Ich trage ein Musketierkostüm. Wir haben den Medoc-Marathon mitgemacht, und der wird mit Kostüm gelaufen, mit Rotweintrinken und so. Und da sind wir dann mit vier Musketieren, vier Leibgardisten und zwei Männern, die als Königin Anna verkleidet waren, gelaufen.“ Sie selber wolle heute zwar nicht mitjoggen, erklärt sie strahlend. Aber dafür werde ihre Tochter mit Hund Jurok teilnehmen.

Der Neujahrslauf wird jährlich vom Berliner Sportverein SCC organisiert. Kostümierungen sind hier gang und gäbe, wie auch schon beim diesjährigen Silvesterlauf des Vereins. Auf dem Mittelstreifen vorm Pariser Platz ist ein gut besuchter Spendentisch aufgebaut. Traditionell wird bei diesen Veranstaltungen kein Startgeld verlangt, sondern für die Unicef gesammelt. Dieses Mal soll für die Opfer der Flutkatastrophe gespendet werden.

Um kurz vor zwölf stellen sich die Läufer auf. 3.900 Teilnehmer zählen die Veranstalter. Eine Rekordzahl, wie der Moderator bemerkt. Aus dem Lautsprecher tönt jetzt die Anfangsmelodie von „The Final Countdown“. Der Moderator zählt: „fünf, vier, drei, zwei, eins!“

Den Startschuss gibt Joachim Zeller, Bezirksbürgermeister von Mitte-Tiergarten. Nach dem Schuss gibt er die Pistole ab und joggt selbst mit. Im eher gemütlichen Tempo schieben sich die „sportlichsten Berliner und Berlinerinnen“ voran. Ganze Familien laufen mit ihren Kindern an der Hand oder mit dem Kinderwagen, so genannten Babyjoggern, mit. Dass niemand voranprescht und die Veranstaltung mit sportlichem Ehrgeiz stört, verhindern die Bremsläufer vom SCC: Mit gelben Vereins-Trikots und verschiedenen Nationalflaggen in den Händen laufen sie in der ersten Reihe und geben so das Tempo vor. Die vier Kilometer lange Strecke führt Unter den Linden entlang, in einem Bogen um den Berliner Dom und den Lustgarten herum und wieder zurück zum Brandenburger Tor.

Die Zuschauer warten bei Tee und Kaffee vom nahe gelegenen, restlos überfüllten Starbucks-Café geduldig auf die Rückkehr der Läufer. René steht noch immer drüben auf der anderen Seite des Brandenburger Tors und stiert vor sich hin. Während sich die drei älteren Damen neben ihm ihren Neujahrs-Schampus genehmigen, versucht er immer noch die gestrige Nacht zu rekonstruieren. Als die gelben Trikots der Bremsläufer wieder auftauchen, die Zuschauer brav klatschen und schließlich die Urkunden verteilt werden, hat René es immer noch nicht geschafft : „Also: Meine EC-Karte liegt auf dem Tresen und dann – nee, da haut was nich hin. Ich glaub’, es kommt alles noch viel schärfer.“ SONJA FAHRENHORST