DIE SCHRAUBENFABRIK
: Für Kasachstan

Nach Hause zu fahren reicht völlig aus

Unten auf der Straße wollen alle nur noch nach Hause. Es ist Freitagnachmittag. Die Belegschaft des kleinen Betriebs unweit meines Fensters steht an der Bushaltestelle und wartet auf das Wochenende. Rechts stehen die Raucher, links die Nichtraucher.

Der Betrieb unweit meines Fensters stellt kleine Schrauben her. Es sind ganz spezielle, enorm winzige Schrauben, die in alle Welt geliefert werden. Manche der Schrauben sind so klein, dass man sie, aus ein paar Zentimetern Entfernung, mit bloßem Auge kaum mehr erkennen kann.

Angeblich werden manche der Schrauben sogar nach Kasachstan geliefert. In eine Fabrik, die günstig Brillen für den zentralasiatischen Markt herstellt. Die Menschen in Zentralasien laufen also mit Schrauben durch die Gegend, die aus dem kleinen Betrieb unweit meines Fensters stammen.

Seit ich das weiß, bekomme ich immer einen Anflug von Fernweh, wenn ich an der Fabrik vorbeigehe. Neulich habe ich es dann nicht mehr ausgehalten und mir übers Internet eine der kasachischen Brillen bestellt. Zugegeben, ein ziemlich spezielles Modell. Auch wenn meine Frau sich seither schieflacht, wenn sie mich sieht – mit dem Fernweh ist es inzwischen deutlich besser.

Ich weiß nicht, ob die Mitarbeiter der Fabrik auch schon mal überlegt haben, sich Brillen aus Kasachstan zu bestellen. Sie könnten ja einfach eine Sammelbestellung machen. Aber vielleicht ist Fernweh innerhalb ihres Betriebes gar nicht so weit verbreitet.

Von hier oben betrachtet sieht jedenfalls keiner aus, als wolle er dieses Wochenende sonderlich weit wegfahren. Gleich müsste der Bus kommen. Die Gesichter blicken müde drein. Nach Hause zu fahren reicht wohl völlig aus, wenn man die ganze Woche über nur Schrauben um sich hat. Wahrscheinlich geht es den Arbeitern in Kasachstan freitagnachmittags an ihren Bushaltestellen genauso. JOCHEN WEEBER