Gewissheit braucht Geduld

Die Bundesregierung bleibt bei den Vermisstenzahlen unkonkret, aber rechnet mit immer mehr toten Deutschen

von ASTRID GEISLER

Wie viele deutsche Urlauber werden nach der Flutkatastrophe im Indischen Ozean wirklich vermisst? Diese Frage sorgt auch gut eine Woche nach dem Seebeben noch immer für Verwirrung. Zwei denkbar gegensätzliche Zahlen wurden gestern diskutiert, beide irreführend – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und aus unterschiedlichen Gründen. Während der Krisenstab des Auswärtigen Amts seit Tagen von „sehr deutlich über 1.000“ vermissten Bundesbürgern spricht, meldete eine Tageszeitung: In Sicherheitskreisen gehe man inzwischen von 3.200 Vermissten aus.

Diese von der Welt verbreitete Zahl sei „schlicht und einfach unverantwortlich“, empörte sich prompt ein Regierungssprecher. Warum, das hatte Außenstaatssekretär Klaus Scharioth gestern schnell erklärt: Es gebe zwar mehrere tausend zum Teil diffuse Hinweise auf womöglich in Asien verschollene deutsche Urlauber, einschließlich Namensverwechslungen, Mehrfachmeldungen und nicht zurückgemeldeten Heimkehrern. Doch die Angaben dieser so genannten Hinweisliste dürfe man wegen der offensichtlichen Fehlerquote nicht eins zu eins in Vermisste umrechnen. Daher sei die genannte Zahl viel zu hoch und „nicht belastbar“. Die Bundesregierung, so Scharioth, aber habe stets nur „belastbare“ Vermisstenzahlen genannt.

Was „belastbar“ in den allermeisten Fällen tatsächlich heißen dürfte, räumt das Außenamt allerdings bisher nur indirekt ein, auch aus Respekt vor den Angehörigen: dass mit täglich wachsender Wahrscheinlichkeit „deutlich über 1.000“ Deutsche bei der Flutkatastrophe ums Leben kamen. „Mittlerweile müssen wir davon ausgehen: Wer heute noch bei uns vermisst gemeldet ist, der bleibt es auch“, sagt Hans Jörg Kalcyc vom DRK-Suchdienst.

Fachleute im Auswärtigen Amt und beim Suchdienst des Roten Kreuzes schließen aus, sie könnten die Zahl der tatsächlich Vermissten angesichts des Wirrwarrs von Doppelzählungen und Panikanrufen grob überschätzen – wie seinerzeit nach dem Einsturz des World Trade Centers geschehen. Die Lehren aus dem Jahr 2001 seien in die jüngsten Schätzungen selbstverständlich einbezogen, heißt es im Außenministerium. „Jeder Hinweis, der eingeht, wird überprüft“, versichert Staatssekretär Scharioth. So frage man zum Beispiel bei Angehörigen nach, ob die Vermissten womöglich inzwischen zurückgekehrt seien. Dabei helfen auch das Bundeskriminalamt und die örtlichen Polizeidienststellen. Sie durchforsten die Listen nach möglichen Buchstaben- und Zahlendrehern. Im Zweifelsfall suche ein Beamter betroffene Familien persönlich auf, erläutert ein BKA-Sprecher. Um auf Nummer sicher zu gehen, würden die Listen der Reiseveranstalter nicht einfach übernommen, sondern systematisch überprüft.

Bis die Familien der deutschen Vermissten Gewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen bekommen, dürften in vielen Fällen noch Monate vergehen. Mittlerweile sind zwar 42 Identifizierungsexperten aus Deutschland im Krisengebiet im Einsatz, doch ihre Arbeit ist langwierig. Bisher sammeln die Fachleute vor allem Material, es soll zur Analyse nach Wiesbaden und dann zurück ins Krisengebiet geschickt werden. Außerdem sind die Fachleute auch auf Proben von Expertenteams aus anderen Ländern angewiesen. Angesichts der monströsen Aufgabe wagt das BKA derzeit nicht einmal zu schätzen, wann alle geborgenen Leichen aus Deutschland identifiziert sein könnten.