strafplanet erde: die untiefen des ballermanns von DIETRICH ZUR NEDDEN
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Um die Untiefen der Silvesternacht zu durchwaten, nein, ihre Ausläufer – die Scheu vor maritimen Metaphern lässt einen ins Stolpern und Stottern geraten –, wurde um Viertel nach Dings der Fernsehkasten eingeschaltet, wurden die Programme der Reihe nach weggeknipst. Abwärts, um dem Jahresanfang Paroli zu bieten. Übermorgen wird gespendet, bestimmt. Jetzt brauchte man Geld, um beim Lieblingssender Home Shopping Europe das Gewürzmarinaden-Set „Winter“ bestellen zu können. Und weil man schon mal dabei war, das Kräuter-Set „Winter“ obendrauf. Dann fix zurück zum geliebten ARD-Videotext, in dem es auf Seite Soundsoviel hieß, „nach Informationen der Bild-Zeitung“ stünden auf den Gehaltslisten des VW-Konzerns bis zu 100 Politiker. Wie viele Journalisten habituell auf branchenfremden Gehaltslisten stehen, danach fragt gottseidank keiner. Weil die Presse ist ja unabhängig.

Bei RTL Zwo angelangt, stutze ich, stoppe. Eine Blondine, die einem Fräulein Biedermann ähnelt, singt einer Horde bunt und teils spärlich gewandeter junger Menschen etwas vor: „So lonely / So lonely / So lonely / So lonely.“ Das Auditorium lässt die gut gelaunt von Einsamkeit singende Frau nicht lange allein mit dem Song von Police, synchron stimmt es ein und zu: „I feel so lonely / I feel so lonely.“

War’s eine Szenerie oder ein Szenario, in das ich geraten war, es war jedenfalls etwas, dessen Tatort ich bisher nur vom Hörensagen kannte. Es nannte sich „Ballermann Hits 2004“ und entsprach ganz und gar nicht dem Klischee, das ich mir von einer Veranstaltung mit diesem Titel vorgestellt hätte, wenn ich je auf den Gedanken gekommen wäre, sie mir vorzustellen. Der kollektive Frohsinn erreichte ungeahnte Höhen, auch wenn die Verse das Gegenteil suggerierten: „I feel low, low, low / I feel low, low, low / I feel low, low, low / I feel low, low, low / I feel low, low, low.“

Folgt der anthropologische Erkenntnisgewinn: Sich offenbar als isoliert empfindende Individuen fühlten sich aufgehoben und in bester Gesellschaft, ohne sich Illusionen um den wahren oder zumindest wahrscheinlichen Status ihrer Existenz zu machen. Man freute sich der loneliness, aber gemeinsam und möglichst mit Körperkontakt.

Plötzlich flimmerte eine andere Bild- und Tonsequenz in den Unsinn und zupass, denn etwas in mir achtet peinlich-pathologisch auf Ausgewogenheit, Gleichmaß und Symmetrie. Ein Gegenstück, eine Ergänzung, das Vorbild für die mallorkinische Ausgelassenheitsdialektik: Jene Szene aus „Das Leben des Brian“. Eine Menschenmenge ersehnt Worte der Erlösung von Brian, der sich zunächst sträubt. Dann tritt er auf den Balkon und sagt ihnen, sie hätten alles falsch verstanden: „You don’t need to follow me! You’ve got to think for yourselves! You’re all individuals!“ Dankbar schreien sie unisono: „Yes, we’re all individuals!“ Brian insistiert: „You’re all different!“ Die Menge ruft zurück: „Yes, we are all different!“ Ein Einziger hat Einwände: „I’m not“, sagt er beherzt-schüchtern und wird ausgezischt. Nach Brians viertem Anlauf, die hehren Ideen der Aufklärung zu propagieren – „Don’t let anyone tell you what to do! Otherwise …“ – greift Brians Mama ein. Das reiche, meint sie.

Dem schließe ich mich an.