Rückzug in den Bambuswald

Die Ausstellung „Shanghai Modern“ in der Münchner Villa Stuck präsentiert chinesische Kunst der Moderne, „Die Chinesen“ im Kunstmuseum Wolfsburg junge chinesische Fotografie. Beide zeigen, dass Chinas Kunst schon lang zwischen westlichen und chinesischen Erwartungen hin- und hergerissen ist

Die Neue Holzschnittbewegung schien gegenwärtig, wollte aber zurück zur uralten Rolle der chinesischen Kunst als Vermittlerin

VON SUSANNE MESSMER

Man betritt sie, die Ausstellung „Shanghai Modern“, die derzeit in Münchens Villa Stuck zu besichtigen ist, und ist erst einmal baff: Kantige und verschrobene Gesichter und grell gezackte Großstadtszenen überall – das sind Techniken und Motive, wie man sie von der westlichen Moderne kennt. Und wie man sie von einer Ausstellung erwartet, die moderne Kunst aus den Jahren 1919 bis 1945 präsentiert, egal woher sie kommt. Dazwischen finden sich aber außerdem ganz andere Bilder: getuschte Landschaften, schwarz auf weiß und hochkant. Das soll modern sein? – fragt man sich verdutzt und ist zwischen die beiden Pole geraten, die bis heute chinesische Kunst zum Knistern bringen: Erneuerung und Internationalität hier, Tradition und Regionalismus dort – und viel Spannung und Wirrwarr dazwischen.

Seit sich die chinesische Kunst der Welt öffnete, ist sie zerrissen zwischen westlicher Wahrnehmung und den Erwartungen des chinesischen Publikums, zwischen der Sehnsucht des Westens nach Exotik oder Dissidenz und dem Bedürfnis Chinas nach einer Kunst, die vor allem dem eigenen Land etwas zu sagen hat – das zeigt die Ausstellung in der Villa Stuck. Eine weitere Ausstellung in Wolfsburg, die derzeit unter dem Titel „Die Chinesen“ junge, zeitgenössische Fotografie aus China versammelt, stellt klar: Bis heute hat sich daran nicht viel geändert. Noch immer geht es in Chinas Kunst mehr um Strategien des Umgangs mit ihrer Wahrnehmung durch den Westen und durch China – sei es um Annäherung an diesen Blick, seine Umarmung oder den Versuch, sich ihm zu entziehen – und das stärker als in Ländern, in denen es mehr Publikum und Käufer gibt und weniger Ungleichzeitigkeiten in der Entwicklung der Kunst.

Da sind zum Beispiel die Fotos des 35-jährigen Fotografen Liu Zheng, dem Einzigen in Wolfsburg, der sich zum Fotografen hat ausbilden lassen. Für seine Reihe „The Chinese“ aus den Jahren 1997 bis 2003 bat er Prostituierte und Bettler, Transsexuelle, Dichter und andere Außenseiter vor die Kamera. Problemlos könnte man diese sozialdokumentarischen Fotografien für eine chinesische Weiterentwicklung von August Sander oder Diane Arbus halten – und ist hingerissen angesichts dieser harten Kritik an der chinesischen Gesellschaft heute. Gleichzeitig zweifelt man: Stellen diese Randgänger wirklich nur sich selbst dar? Oder produzieren sie sich auch für den Betrachter, für den geschockten chinesischen? Oder sogar für den begeisterten westlichen?

Da sind aber auch die aufwändigen, kostbaren historischen Tableaus eines Wang Qingsong, der 2000 mit teurer Kamera, Komparsen, Masken- und Kostümbildnern die Fotografie „The Night Revel of Lao Li“ modellierte: eine komplizierte Nachstellung einer berühmten traditionellen Figurenmalerei, die das Leben eines gescheiterten Gelehrten im 10. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung beschreibt. Man fühlt sich ausgeschlossen. Und gleichzeitig schleicht sich ein: Ist es nicht aufregend, wenn man mal etwas nicht in Beziehung gesetzt bekommt? Geht es hier überhaupt um uns, also hauptsächlich darum, sich dem westlichen Blick zu entziehen? Und verwehren sich Werke wie diese vielleicht inzwischen genauso dem chinesischem Verständnis?

Westliche Kunst wird in China schon seit Jahrhunderten stärker wahrgenommen als chinesische im Westen – seit Beginn des letzten Jahrhunderts aber, als das Kaiserreich abgeschafft war, griffen Ideen der europäischen Moderne mit einer Intensität, die es bis dahin nicht gegeben hatte. Die ersten chinesischen Studenten gingen nach Europa und brachten den Traum von radikalen Veränderungen mit, wollten die chinesische Feudalgesellschaft und das Bildungswesen reformieren, dachten über die Institutionalisierung der Umgangssprache und die Einführung westlicher Formen der Wissenschaft nach. Viele bezweifelten den Nutzen der traditionellen chinesischen Kunst, empfanden sie erstarrt und nichts sagend. Eine der wichtigsten Künstlervereinigungen, die die Ideen des Kubismus, Dadaismus und Surrealismus aufnahm, war die Storm Society. Theoretisch schlossen sie sich der Idee der Malerei der reinen Formen ohne gesellschaftliche Verantwortung an. Praktisch ähnelten die Bilder der beteiligten Künstler wie Guang Liang oder Ni Yide frühen Bildern von Picasso.

Es lohnt, sich durch die Ausstellung „Shanghai Modern“ zu kämpfen, die sich arg in der Beschränkung auf Schanghai, auf nur eine der Kunstmetropolen Chinas, verheddert – und sogar durch die ausführlichen, manchmal aber planlosen und wenig aufeinander abgestimmten Katalogtexte. Man wird herausbekommen: Neben Vereinigungen wie der Storm Society kam es auch zu einer nicht weniger interessanten Gegenbewegung. Eine der ersten Ausstellungen chinesischer Malerei in Europa wurde vom bekannten Maler Liu Haisu ausgerichtet, der sich selbst der so genannten Malerei des mittleren Weges zurechnete. Diese verschmolz chinesische und europäische Kunst, arbeitete zum Beispiel gleichzeitig multiperspektivisch wie in der westlichen Moderne und mit starken Konturierungen wie in der traditionellen chinesischen Kunst. Und trotzdem stellte er in seiner Ausstellung in Frankfurt/Main im Jahr 1931 vor allem moderne Literatenmalerei aus: Tuschemalerei, so wie sie von Gelehrten in China schon seit dem 8. Jahrhundert als Hobby kultiviert wird.

Doch so einfach lassen sich die auch in München gezeigten Literatenkünstler wie Pan Tianshou mit seiner Fingermalerei oder Huang Binhong mit seinen breiten, pastosen Pinselstrichen nicht auf bloße Bewahrung reduzieren. Wer weiß, wie sie gemalt hätten, wäre die abendländische Kultur nicht mit solcher Macht in China eingebrochen? Außerdem: Literatenmalerei mag für den westlichen Blick einförmig erscheinen. Ihre Produzenten dagegen fanden, dass sie freier und fortschrittlicher ist als westliche Landschaftsmalerei: Statt mechanisch die äußere Natur abzubilden, zeigt sie den geistigen Inhalt, die Substanz der Objekte – und den persönlichen Geschmack des Malers, meinten sie.

Die Gleichsetzung von traditioneller mit rückwärts gewandter und moderner mit avantgardistischer Kunst in China fällt schwer

Während moderne Literatenmaler in China so vielleicht weniger um Individualismus in ihren Bildern kämpften, als es für uns den Anschein hat, war es die Neue Holzschnittbewegung um den einflussreichen chinesischen Autor Lu Xun Anfang der Dreißigerjahre, in deren Bildern man zunächst moderne Stilmittel erkennt, die aber vor allem für sozial verantwortungsbewusste Kunst votierte. Ihre wilden, groben Bilder von Arbeitslosen und Kriegsopfern scheinen gegenwärtig, wollten aber zurück zu einem didaktischen Ansatz, zurück zur uralten Rolle der chinesischen Kunst als großen Vermittlerin. In einer Zeit, in der Tschiang Kai-shek und seine nationalistischen Regierung die Macht hatte, nahmen sie bereits den sozialistischen Realismus vorweg, wie ihn Mao Tse-tung ein Jahrzehnt später zur offiziellen Doktrin erklären sollte.

Die Gleichsetzung von traditioneller mit rückwärts gewandter und moderner mit avantgardistischer Kunst in China fällt schon schwer, wenn sie fast ein ganzes Jahrhundert alt ist: Heute aber ist sie ganz unmöglich geworden. Im viel schmaleren Katalog zur viel üppigeren und dennoch transparenteren Wolfsburger Ausstellung „Die Chinesen“ erfährt man: Eine Internationalität, wie es sie zu Anfang des Jahrhunderts im Bereich der Malerei gab, gibt es im Bereich der Fotografie heute nicht mehr oder noch nicht. Obwohl seit Beginn der Neunzigerjahre erstmals Künstler mit Fotografie arbeiten, sind sie im eigenen Land weitgehend unbemerkt geblieben. So bleiben viele Künstler in China bis heute der traditionellen Auffassung der Fotografie als mimetischer Maschine treu und verlassen sich lieber auf das Erzählen von Geschichten als auf die Sinnlichkeit ihres Mediums. Und weil Fotografie seit Ausrufung der Volksrepublik 1949 vor allem der Propaganda diente – oder dem kunsthandwerklichen Familienporträt beim Fotografen nebenan –, stehen sie auch dem Schnappschuss, dem Realismus, der Fotografie als Mittel zur Dokumentation, skeptisch gegenüber und erzählen lieber kompliziert komponierte Geschichten aus der Fantasie.

Liu Zheng beispielsweise mit seiner sozialkritischen Reihe „The Chinese“ hat in letzter Zeit an einem ganz anderen Projekt gearbeitet: Den „Four Beauties“, einer Fotoserie aus dem Jahr 2004, die nach alten Geschichten aus der chinesischen Oper ein vielschichtiges, hoch dramatisches und gleichzeitig wie erstarrtes Geschehen mit Kaiserinnen, Kurtisanen, Würdenträgern und Schwertkämpfern präsentiert – das ist große Erzählung, die sich weitgehend dem westlichen Verständnis verschließt. Yang Fudong zeigt in seiner Videoarbeit „Seven Intellectuals in Bamboo Garden“ (2003), die sowohl in Wolfsburg als auch in München zu sehen ist, eine Gruppe junger Intellektueller beim kontemplativen Spaziergang durch stilisierte Natur, eine vernebelte Traumlandschaft, wie man sie aus chinesischen Parks kennt. Die Arbeit zeigt melancholische, weltfremde Zwanzig- und Dreißigjährige – aber ebenfalls nach einer Geschichte aus dem 3. Jahrhundert, in der es um Rückzug geht und um die Sehnsucht, nur den individuellen Impulsen folgen zu müssen.

Ebenfalls um die Rolle des Intellektuellen, seine Nichtigkeit angesichts der Größe der Natur, geht es bei einer Serie von Selbstporträts von Hai Bo aus den Jahren 2001–2003. Sie zeigt ihn, wie er unter einem Baum sitzt. Es handelt sich um vier Fotos, die genau an den Tagen der Sonnenwende und der Tag-und-Nacht-Gleiche gemacht wurden – weil sie sich trotz des Wechsels der Jahreszeiten exakt gleichen sollten, dauerte es Jahre, sie herzustellen. Ähnlich wie die Videoarbeit Yang Fudongs zitieren sie in ihrer Genauigkeit die Literatenmalerei. Mag sein, dass auch diese Arbeiten sich weniger um die Sinnlichkeit ihres Mediums kümmern als um Geschichten. Vielleicht hat man es hier aber auch mit einer anderen Art der modernen Kunst zu tun, die nicht nur modern ist, weil sie damit spielt, wie sie wahrgenommen wird. Sie ist auch modern, weil sie an Traditionen anknüpft. Und das ist gerade angesichts der neuesten Veränderungen in China avantgardistischer, als es sich der Westen vorstellen kann.

„The Chinese“ bis 9. 1., Katalog 24 €; „Shanghai Modern“ bis 16. 1. u. 25. 2.–15. 5. in der Kunsthalle Kiel, Katalog 49,80 €; Liu Zheng: „The Chinese“. Steidl, Göttingen 2004, 176 S., 40 €