Wie jammerschade!

Die Enttäuschung ist groß in diesen Tagen. Schon hatten sich die Deutschen darauf eingestellt, ihr Versagen bei Maut und Hartz IV lustvoll zu bemitleiden. Das Problem: Es hat leider fast alles geklappt

VON RALPH BOLLMANN

Eine große Tageszeitung stimmte das Klagelied gestern schon auf der Titelseite an. „Überraschend problemlos“ sei der Start der Arbeitsmarktreform verlaufen, jammerten die Kollegen – um auf Seite drei mit wachsender Verzweiflung zu verkünden, es sei auf den Ämtern „erstaunlich ruhig“ geblieben. Noch katastrophaler geriet die Bilanz beim neuen Mautsystem für Lastkraftwagen, an dem jetzt sogar Schweden interessiert ist. „Alles läuft ruhig“, wusste der Reporter von der Autobahn nur zu berichten.

Die Enttäuschung ist groß in diesen Tagen. Schon hatten sich die Deutschen zum Jahreswechsel darauf eingerichtet, einmal mehr die eigene Unfähigkeit lustvoll zu bejammern. Wie, das Mautsystem bleibt auch anderthalb Jahre nach dem zuerst geplanten Starttermin ein Totalausfall? Typisch, in diesem Land funktioniert halt einfach nichts. Hartz IV, angekündigt als Jahrhundertreform, scheitert an kleinen Computerpannen? Klar, die Bundesrepublik ist zu Veränderungen eben ganz und gar nicht fähig.

Denn auf das Jammern konnten sich die Deutschen bei allem Streit noch stets verständigen. Vom dogmatischen Neoliberalen bis zum ideologischen Sozialstaatsnostalgiker waren sich bis zum 1. Januar alle einig: In diesem Land läuft alles schief. Ob nun gierige Manager als die wahren Abzocker galten oder eher die Bezieher der alten Arbeitslosenhilfe – darauf kam es am Ende gar nicht an. Was zählte, war das Scheitern. Denn Scheitern ist schön. Weil es bequem ist und weil ein Gescheiterter die Tauglichkeit der eigenen Ideen nicht mehr an der Praxis messen muss. Deshalb sind die Deutschen seit Kant und Hegel die Weltmeister des abstrakten Denkens – und zugleich auch die Weltmeister im Jammern.

Die in dieser Hinsicht deutscheste aller Zeitungen, die Frankfurter Rundschau, gab dafür erneut ein schönes Beispiel. Monatelang hatten die Kollegen im vorigen Jahr den Sozialabbau durch Hartz IV beklagt: viel zu wenig Geld für viel zu wenige Empfangsberechtigte. Kaum hat sich herausgestellt, dass die Kürzungen nicht ganz so krass sind wie zunächst erwartet – da wechselt das Blatt die Perspektive um 180 Grad und sorgt sich plötzlich um den Bundeshaushalt: „Hartz-Reform viel teurer als erwartet“.

Doch sind die Durschnittsbürger schon weiter als die Journalisten. Auf ihrer Suche nach Empörten blieben die Redakteure weitgehend erfolglos. Dass eine frühere Tätigkeit als Akademiker den sozialen Status nicht mehr auf Jahrzehnte garantiert, dass schwere Lastkraftwagen nicht länger unentgeltlich die deutschen Autobahnen ruinieren dürfen – das ist zumindest so weit akzeptiert, dass es für die große Aufwallung enttäuschter Schadenfreude angesichts der ausgebliebenen Technikpannen nicht mehr reicht.

Vielleicht auch deshalb, weil sich dieses Bedürfnis allmählich erschöpft hat. Das geräuschlose Funktionieren von Maut und Hartz IV fällt just in eine Phase, in der das Selbstvertrauen wieder wächst – nach Jahren des Jammerns über den Zustand des Landes. Selbst die Pisa-Forscher, die den Zustand des deutschen Bildungssystems gewöhnlich in den dunkelsten Farben malen, lobten zuletzt positive Ansätze. Immer nur zu jammern, das wird offenbar selbst den Deutschen irgendwann zu viel.

Und dann, zu allem Überfluss, kaufen die Leute auch noch ein. Schon das Weihnachtsgeschäft lief ohne jeden äußeren Grund deutlich besser als erwartet, und in dieser Woche waren die Märkte der beiden großen Elektronikketten wegen spektakulärer Rabattaktionen sogar überfüllt.

Mag sein, dass zuletzt auch die große Flut ein wenig zum Aufschwung des Selbstvertrauens beigetragen hat zu der Erkenntnis, dass es uns so schlecht nicht geht. Womöglich sogar zu jenem Aufschwung der Lebenslust, zu dem ferne Katastrophen nicht selten verhelfen: Wer wollte sich das Leben angesichts der menschlichen Vergänglichkeit durch Luxusprobleme verdrießen lassen, bloß weil er übermorgen vielleicht arbeitslos wird? Fürs Jammern ist eine solche Zeit nicht günstig. Eher schon für die heitere Gelassenheit, mit der die meisten Deutschen das überraschend geräuschlose Funktionieren ihres Landes zur Kenntnis nehmen.