Mechanik der Jubiläen

DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Es scheint, als absolviere man die Gedenkübungen inzwischen mit einer gewissen Leichthändigkeit

2005 steht im Zeichen der Jubiläen: Friedrich Schiller, Albert Einstein und den Märchenerzähler Hans Christian Andersen wird man feiern. Doch dies alles überstrahlt (und überschattet wegen der Opfer) das 60 Jahre zurückliegende Ende des Holocausts und des Zweiten Weltkrieges … Der Tagesspiegel 19. 12. 2004

Wenn alles abgefeiert ist, Weihnachten und Silvester, taucht man unverkennbar mit Erleichterung im neuen Jahr auf. Der ewige Sonntagnachmittag, der sich zwischen den Jahren dehnt, machte depressiv. Weil nichts schwerer zu ertragen ist als eine Reihe von guten Tagen, wie Goethe (statt Schiller) gesagt hat. Das Schlemmen und Feiern verzerrt den gewohnten Lebensrhythmus, aber wenn man es auslässt, fühlt man sich plötzlich draußen stehend, man schaut den anderen in ihren festlich erleuchteten Stuben zu, und das macht die Laune auch nicht besser.

Noch schwieriger gestaltet sie sich, weil Weihnachten das Fest des Jahres ist, mit dem der Familienkult gipfelt. Jeder kann von den Kinderweihnachten erzählen, wie sie selig begannen und irgendwann in Krach und Verfinsterung endeten. Manche erleben das längst mit den eigenen Kindern (und Kindeskindern); andere haben sich Ersatzrituale ausgedacht, reisen mit Freunden in die nähere oder weitere Ferne, was aber nach Flucht schmeckt, also mit dem Ausgangspunkt verhaftet bleibt. Ich bin seit fast zehn Jahren regelmäßig auf Rügen, was sich immer ein bisschen wie Genesungsurlaub anfühlt – bloß ging gar keine Krankheit vorauf.

Ich bin nämlich völlig ohne Familie. Die Eltern sind lange tot und hinterließen mir keine Geschwister, ebenso wenig Onkels oder Tanten. Demzufolge fallen auch Cousins und Cousinen aus – mit denen der Kollege W. so reichhaltig gesegnet ist, dass sie ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit als Corona umlegen. Irgendwo mögen sich Personen herumtreiben, die sich als entfernter Vetter oder Base bezeichnen ließen, ich kenne sie aber nicht. Irgendwann schrieb mir ein gewisser Charles Rutschky III aus Pennsylvania, dass nach seinen Recherchen K. und ich und er und seine drei Söhne die einzigen Träger des Namens R. auf diesem Planeten seien – dann brach der Kontakt aber gleich ab.

Da mir also das manifeste Objekt des Familienkults an Weihnachten abgeht, wird mir das latente um so deutlicher. Es sind die Toten. All die, mit denen wir jemals Weihnachten gefeiert haben seit der Kindheit und die damals natürlich in der Begleitung ihrer eigenen Toten sich befanden (von denen wir als Kinder keine Ahnung hatten). Bloß verfügt der Familienkult des Weihnachtsfests über keine magischen Kräfte; die Toten nehmen als Tote teil, und dies ist der tiefste Schatten auf dem Feiern und Schlemmen. Dass sich die Angelegenheit über mehrere Tage hinziehen darf, vertieft die Gefühle von Misserfolg, Scheitern, Vergeblichkeit. Dass dann ein paar reguläre Wochentage anstehen, hilft wenig; sie bleiben merkwürdig schattenhaft und gespenstisch.

Meine alte Mutter verbat sich alle Einladungen zu Silvester und ging früh schlafen. Sie empfand den Eintritt des neuen Jahres als Memento mori und traute Lärm und Lustigkeit nicht zu, die Todesgedanken zu übertäuben. Der 1. Januar erstrahlte dann in einer unverkatert reizvollen Nüchternheit. Zwar sieht man noch nichts davon, aber man kann darauf setzen, dass die Tage unwiderstehlich länger werden, dass das Licht zurückkehrt. Für das Sterben reservierte sich meine alte Mutter einen Märztag (bei meinem Vater war’s ein 9. November, der für seine Generation eh ein hochbedeutsames Datum darstellte).

Gut, wir haben jetzt also alles überstanden, die Familie unserer Toten hat uns wieder freigegeben, das Memento mori von Silvester haben wir ignoriert oder mit Kracher und Schampus übertäubt. Jetzt könnte also das Leben wieder beginnen, mit Lichtzuwachs und Vorfrühling. Aber stattdessen kommen die toten Kulturheroen auf uns zu, Einstein vor 50, Schiller vor 200 Jahren verstorben – und wer sich da noch alles finden wird für den Ahnenkult im Lauf des Jahres (vor 110 Jahren wurde am 29. März Ernst Jünger geboren …).

Es kommt mir so vor, als absolviere man diese Übungen inzwischen mit einer gewissen Leichthändigkeit. Zwar wird es jede Menge Tiefenhermeneutik geben, wie Einsteins Relativitätstheorie die Gewissheiten des bürgerlichen Zeitalters erschütterte und einerseits die moderne Kunst, andererseits den Ersten Weltkrieg antizipierte etc.; wie Schiller es im 19. Jahrhundert zum nationalen Heiland brachte und heute praktisch quantité négligeable ist – während in seinen Ideen zur ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts immer noch viel unabgegoltene Utopie steckt (ja, ja), eine Utopie, die uns durch das stählerne Vorrücken der Spaßgesellschaft immer stärker verstellt wird etc.

Dass diese Übungen in Ahnenkult so leichthändig gelingen, erklärt sich wohl aus der Mechanik der Jubiläen. Kein dringendes Gegenwartsproblem erfordert den Beistand Schillers oder Einsteins, kein Tigersprung ins Vergangene erweckt ihre schockierende Aktualität. Es ist einfach der Schematismus des Kalenders, der den 50. oder 200. Geburts- oder Todestag anzeigt, und prompt machen wir uns artig Gedanken über unser lebendiges Verhältnis zu den theuren Toten.

In dieser Hinsicht bot vor allem das Adorno-Jahr ein Lehrstück. Es verging keine Woche, in der nicht ein Aspekt seiner Theorie überprüft, ein Colloquium zu Spezialfragen der (einstmals) neuen Musik veranstaltet, die besondere Aktualität seiner Fundamentalkritik an der Kulturindustrie affirmiert oder bestritten wurde.

Und gleichzeitig begleitete dies innige Getöse die stetige Botschaft, dass so gut wie nichts an Adornos Kritischer Theorie die Gegenwart zu belehren vermöge. Ja, weil „100 Jahre Adorno“ einfach keinen richtigen Anlass für kräftiges Nachdenken bietet.

Kein dringendes Gegenwartsproblem erfordert den Beistand Schillers oder Einsteins

Anders steht es um die 60 Jahre Kriegsende. In die anstehenden Gedenkrituale bleibt zu viel Lebensstoff verwoben, als dass sie leichthändig zu absolvieren wären (siehe oben). Allzu viele Leute können noch erzählen, wie sie und/oder die Ihren die Niederlage des Dritten Reiches erlebten; wann sie zum ersten Mal vom Juden- und den anderen Massenmorden erfuhren; wie sie zugleich wütend und schüchtern in die Fragen eindrangen, welchen Anteil Vater oder Onkel, einer der Ihren an diesem Schrecken genommen hatten. Sicher, diese Zeugen werden langsam weniger; aber auch als Tote (s. o.) hören sie nicht auf, die Lebenden zu plagen.

Was sich grundlegend geändert hat: dass die Bundesrepublik diese Gedenktage in ihre nationalen Rituale aufnahm. Niemand braucht sich mehr um seine persönliche Unfähigkeit/Unmöglichkeit, zu trauern, sorgen. Es gibt die entsprechenden Feiern mit Ansprachen und Musik; das Fernsehen zeigt wieder und wieder das einschlägige Material – wie gesagt, das Ritual und seine Regeln übernehmen.

Dafür wird dies Jahr den Höhepunkt bilden: wenn das Holocaust-Mahnmal eröffnet wird. Wie seine Begehung auf Sie oder mich auch wirkt (oder zu wirken versäumt), ist nicht so wichtig. Das Kollektiv repräsentiert sich in dieser zentralen Gedenkstätte und entlastet die Individuen von persönlichen Anstrengungen.

Fotohinweis: Michael Rutschky lebt als Publizist in Berlin.