„Staatsbürgerpflicht“

Warum ist „Aktenzeichen XY … ungelöst“ so erfolgreich? Fragen an Stefan Ummenhofer, Autor eines Buches über die gehassliebte Gruselsendung

INTERVIEW MICHAEL LÜNSTROTH

taz: Herr Ummenhofer, ich wollte Ihr Buch wirklich lesen, aber nach einer halben Stunde musste ich es weglegen.

Stefan Ummenhofer: Ach, wieso?

Bei der Beschreibung der „XY“-Fälle stellte sich wieder das alte Unwohlgefühl an und ich kontrollierte alle Türen.

Wenn unser Buch so wirkt, dann haben wir gute Arbeit geleistet. Es ist schon unglaublich, welche Wirkung diese Sendung hatte und in Ihrem Fall offensichtlich ja immer noch hat.

Gehören Sie auch selbst zu der Generation, die von Eduard Zimmermann geprägt wurde?

Absolut, ich bin 1969 geboren, habe die Sendung das erste Mal Mitte der Siebziger gesehen. Heimlich natürlich. Damals war ja die Hochphase der RAF und die gezeigten Phantombilder der Terroristen sind mir bis heute in Erinnerung geblieben. Für mich war „XY“ die erste Konfrontation mit realem Verbrechen.

Wie haben Sie damals die Sendung verfolgt?

Im Anfang lief das alles recht geheim ab. Hauptsächlich, wenn die Eltern nicht da waren, denn die mochten „XY“ nicht. Ich war etwa sieben oder acht, als ich Eduard Zimmermann das erste Mal erblickte. Später trafen wir uns dann bei Freunden und schauten gemeinsam. Irgendwann habe ich es auch mit meinen Eltern geschaut. Nach der Sendung musste meine Mutter allerdings immer hinterm Vorhang und unter meinem Bett kontrollieren, ob da auch wirklich niemand ist.

Was ist das Erfolgsgeheimnis der Sendung? Laienschauspieler agieren in einer sehr bürgerlich-biederen Kulisse und die eigentliche Tat wird so gut wie nie gezeigt. Trotzdem schalteten bis zu 30 Millionen Zuschauer ein. Wieso?

Da kommen einige Dinge zusammen. Die Faszination vom Grauen nebenan, die Homevideo-Atmosphäre, die in den Einspielfilmen erzeugt wurde, die skurrilen Dialoge aus dem Alltagsleben und die kommentierenden Stimmen aus dem Off: „Noch weiß Heiko P. nicht, dass dies seine letzte Mahlzeit sein wird.“ Bei meinen Großeltern und vielen Älteren gehörte „XY“ schauen fast zu so etwas wie einer staatsbürgerlichen Pflicht.

Ist es nicht auch das typische „Car Crash TV“-Phänomen: Obwohl man nicht hinsehen will, schaltet man ein?

Es hat schon mit der Lust an Sensation zu tun. Andererseits muss man auch bedenken: Es gab damals nur drei Fernsehprogramme. An einem Freitagabend blieb da nicht die große Auswahl.

Heinrich Böll nannte die Sendung ein muffiges Grusical für Spießer.

Das von Böll insinuierte Denunziationselement der Sendung war nach unseren Recherchen nicht sehr ausgeprägt. Eigentlich verbietet sich solch eine Aussage auch, wenn man an die Opfer und ihre Familien denkt. Dass die Sendung aber beim ein oder anderen Zuschauer Vorurteile bestärkte, will ich gar nicht ausschließen.

Und was ist mit dem Kritikpunkt, die Sendung schaffe und verschärfe Ressentiments gegenüber Minderheiten?

Das läuft doch auf die These hinaus, entweder das ZDF oder die Polizei möchte Ausländer oder andere Minderheiten als Kriminelle präsentieren. Das ist keine haltbare These, auch wenn der Prozentsatz von Ausländern unter den Gesuchten seit dem Fall des Eisernen Vorhangs stark zugenommen hat. Aber die Polizei kann doch nicht aufgrund von Political Correctness die Fahndung nach kriminell gewordenen Mitgliedern von Randgruppen einstellen.

Eine letzte, sehr persönliche Frage: Werde ich mein Trauma jemals überwinden?

Das wird schwierig, wenn Sie das bis jetzt nicht überwunden haben. Vielleicht sollten Sie sich einige Fälle anschauen, die aufgeklärt wurden. Dann können Sie sich beruhigt zurücklehnen und sagen: „Gut, dass die hinter Gittern sind.“ Oder schauen Sie sich das aktuelle „Aktenzeichen XY“ (ZDF, donnerstags 20.15 Uhr) an, da werden so viele Showeffekte eingebunden, da kommen Sie nicht mehr auf den Gedanken, dass dies noch real sein könnte.