berliner szenen Gelassene Auster

Harry schweift ab

Es ist ein bisschen wie Eulen nach Athen tragen, wenn man über Harry Rowohlts Kunst der Abschweifung in der taz schreibt. Ist er doch mit einer Hand voll Kolumnisten der Wahrheit-Seite wahlverschwistert und jederzeit bereit zu verraten, bei welchen Lesungen wer wo an den Beinen fror. Von Lesereisen zu erzählen, ist überhaupt der Stoff, aus dem er seine Netze spinnt: zurückzublicken, wie er sein Garn ausgelegt und was er gefangen hat.

Diesmal kam er allein in die Volksbühne. Das Publikum baute ordentliche Schlangen vor den Türen, um drinnen dann von seinen Lieblingsfans zu hören, wilden Byker-Banden. Rowohlt zeigte sich nicht nur als Übersetzer aus dem Englischen ins Deutsche, sondern auch aus dem Hessischen ins Hamburgische. Sodass viele, die den Saal als Berliner betreten hatten, zur Pause als bekennende Norddeutsche wieder herauskamen.

Überhaupt gewinnt die Geografie Deutschlands mit Rowohlt ein neues Gesicht, und plötzlich hat man von Städten wie Bad Bevensen oder Lüneburg ganz konkrete Vorstellungen. Der landauf landab schlingernde Parcours aus Lesungen, Lindenstraßen-Galas und Benefiz-Auftritten in Bahnhofsmissionen wird zuletzt zum Panorama. Breit und gewissermaßen bildfüllend wie die Stimme des Vorlesers, wenn er in drei Sätzen die Szene eines Westerns umreißt, um darin ein Schnellkochrezept zu verstecken, sozusagen zwischen zwei Schusswechseln zu kochen.

Zum Schluss liest Rowohlt Gedichte. Von der Gelassenheit einer Auster und einem dehnbaren, faltbaren Mann. Und jedes Mal scheint er ganz zur Stimme zu werden, die so tief in die sprachlichen Bilder eintaucht, dass er selbst zur gelassenen Auster und zum faltbaren Mann geworden ist. KATRIN BETTINA MÜLLER