FELIX LEE ÜBER DAS LEIDEN DER EVANGELISCHEN KIRCHE UNTER JOSEPH RATZINGER
: Im Schatten des Papstes

Die Kirchenaustritte häuften sich auf einmal nicht nur bei den Katholiken

Der Protestant von heute – er hat’s wahrlich nicht leicht. Er ist viel frommer als der Katholik. Er muss sein Gewissen stets aufs Neue hinterfragen. Und während der Katholik im Anschluss an die Sonntagsmesse beim Frühschoppen die Sau raus lassen darf, weil er sich spätestens bei der nächsten Beichte von all seinen Sünden wieder freisprechen lassen kann, ist der Protestant zur strengen Askese verdammt.

Auch mit den pompösen Spektakeln des Vatikan kann die evangelische Kirche nicht mithalten. Sie bleibt im Windschatten des öffentlichen Interesses – und darf dann auch noch ausbaden, was der Papst mal wieder Übles verzapft hat.

Zuletzt geschehen Anfang des Jahres, als Papst Benedikt XVI. die Exkommunikation des britischen Bischofs und Holocaustleugners Richard Williamson aufhob, ohne dass sich der britische Kleriker zuvor von seinen antisemitischen Äußerungen distanziert hatte. Die Empörung über den Papst war groß – das Ansehen der Kirche als solches drohte in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Als die Austritte sich auf einmal nicht nur bei den Katholiken häuften, sahen sich die Oberhäupter der evangelischen Kirche gezwungen, sich mit ihren katholischen Glaubensbrüdern zwar nicht zu solidarisieren, sie aber zumindest in Schutz zu nehmen.

Dabei beruht die Fürsorge keineswegs auf Gegenseitigkeit. Erst vor zwei Jahren hat Benedikt den evangelischen Christen die Zugehörigkeit zu einer Kirche erneut abgesprochen. Bei den Protestanten handele es sich lediglich um „kirchliche Gemeinschaften“. Ratzinger selbst wollte das Schreiben als Abwehrmaßnahme gegen die Freikirchen in Südamerika verstanden wissen, wo evangelikale Strenggläubige der Papstkirche offensiv Gläubige abluchsen. Die deutschen Protestanten sind solcher Sekten unverdächtig. Und den deutschen Katholiken werben sie auch schon lange keine Gläubigen mehr ab.

Die Protestanten – sie befinden sich in einem Dilemma. Sie halten sich vom reaktionären Rollback des Vatikan fern, werden aber trotzdem in den Strudel der sich ausweitenden Kirchenskepsis gesogen. Längst erhitzt sich der hiesige Glaubensstreit nicht mehr an Detailfragen wie der Unfehlbarkeit des Papstes – oder ob und wie genau die Jungfrauengeburt stattgefunden hat. Zig Millionen Menschen in Deutschland glauben gar nicht mehr an den lieben Gott, nicht mal jeder Zweite mehr ans Jenseits. Menschen auf Sinnsuche fühlen sich durch solche kleinteiligen Streitereien von den Kirchen eher abgestoßen.

Immerhin: Was den Protestanten bleibt, ist ihre Bescheidenheit. Sie soll ja schon einigen aus der Krise geholfen haben.