Theater der letzten Tage

„Weit von hier“ vom Amerikaner Neil LaBute hatte in den Bochumer Kammerspielen Premiere. Die Nachwuchs-Inszenierung könnte im nächsten Jahr den Deutschen Jugendtheaterpreis abräumen

VON PETER ORTMANN

Ältere Semester krochen nach der Deutschen Erstaufführung von Neil LaButes Stück „Weit von hier“ in den Bochumer Kammerspielen wieder hinter ihren Ofen zurück und diskutierten Sinn und Unsinn eines solchen Abends. „Wie kann man so einen Scheiß auf den Spielplan setzen“, sagte einer am Taxistand vor der „Speisekammer“. Ficken, Abtreibung, Ficken, Abtreibung, Ficken... - Säuglingsmord. In den US-amerikanischen Staaten – ganz weit vom Alten Europa – ist es eben leicht zu schocken. Nie haben biedere Bürger dort etwas von der Krankheit der Jugend gehört. Wissen nicht, dass ihr Nachwuchs ohne Chance aufwächst und wie fucking brutal sich das auswirkt. Anders ist es nicht zu erklären, dass ein Autor wie der Mormone Neil LaBute dort als sozialkritischer Dramatiker gilt.

Eigentlich sollten die Heiligen der letzten Tage ja keine Drogen nehmen, doch LaBute hockt oft bei McDonalds rum und fängt so die jugendliche Wut ein. Um seine Figuren würde er bei der Pappbrötchenkette privat allerdings einen weiten Bogen machen, schreibt er im Vorwort zum Stück, das mit der Bezeichnung Sozialkitsch noch gut wegkommt: Da leben die Jugendlichen Darrell, Tim, Jenn und Shari in zerrütteten Familien. Auf Schule haben sie keinen Bock. Aggressivität, Alkohol und Lieblosigkeit bestimmen ihren Alltag. Darrell zerbricht daran, verprügelt Freund und Freundin, tötet vor Wut den Säugling seiner Stiefschwester: Start eines melodramatischen Roadmovies mit geklautem Auto und entwendeter Kreditkarte. Der Rest bleibt verwirrt zurück. Fehlt nur noch Johnny Cash in St. Quentin.

In Bochum scheinen Plattheiten über eine solche amerikanische Form der Gegenwartsbewältigung gut in den Spielplan zu passen. Väter, die im Golfkrieg für unser Öl Menschen niederknallten, aber im bunten arabischen Spielzeugladen feuchte Augen kriegen und Mütter, die bei wechselnden Partner nicht mehr wissen, ob da ein Stiefkind oder ein Eigenes in der Küche sitzt – das scheint der Stoff zu sein, mit dem die durchgesessenen Sessel in Bochum gefüllt werden können. Die Bluthochzeit von Lorca oder Wedekinds Lulu scheinen es nicht zu sein – sie werden gerade abgesetzt.

Mit dieser Regiearbeit hätte „Weit von hier“ allerdings gute Chancen, im nächsten Jahr den Deutschen Jugendtheaterpreis abzuräumen. Denn was Nachwuchsregisseurin Annette Pullen ablieferte, wäre fürs Junge Schauspielhaus beachtlich gewesen. Ein richtiges Bühnenbild mit Motor hatte das Haus ihr spendiert. Ob Affenkäfig, Häusermeer oder Einheitswohnung, alles blieb immer schön teppichgrau. Jugendliche würden das verstehen – Einheitsgrau im Wohnsilo eben. Die würden sich auch nicht daran stören, dass die Regie recht einfallslos war, die jungen Schauspieler sich der Farbgebung des Bühnenbilds anpassten. Warum beim Szenenwechsel zwischen Drinnen und Draußen von den Protagonisten immer die Polster für ein Sofa mitgeschleppt werden mussten, wird das Geheimnis von Pullen bleiben – so etwas ist nur auf Schultheaterbühnen ein Brüller. Dafür schwankten die Figuren zwischen Text herunterleiern, Pseudobetroffenheit und aufgesetzter Impulsivität, bei der so zufällig das Bühnenbild eingetreten wurde. Ansonsten sorgte nur die Musik von Placebo für ein bisschen Atmosphäre, die aber selten das Geschehen unterstützte. Das änderte sich auch nicht, als ältere Damen Huch riefen, als Darrel das Baby in den zugefrorenen Teich warf.

Doch das Bochumer Publikum spendete artig und wie immer mächtig Beifall und übertünchte die zarten Buhrufe für die Regie. LaBute sitzt vielleicht in einer Milchbar, wo ein gewisser Alex verkehrt und ein weiteres Kapitel Sozialkitsch könnte Wirklichkeit werden. Er sollte lieber Ferdinand Bruckner lesen.