Eine neue Verzagtheit

Schriften zu Zeitschriften: Die Zeitschrift „Vorgänge“ erklärt die Protestmüdigkeit bei Hartz IV, Mariam Lau geißelt im „Merkur“ die larmoyante Stimmung der gegenwärtigen 68er-Kritik

VON JAN-HENDRIK WULF

Hat Mutter Natur wieder einmal ihre schützende Hand über die rot-grüne Bundesregierung gehalten? Angesichts der Flutkatastrophe in Südostasien ist von dem erwarteten Aufschrei zum Start von Hartz IV bislang kaum etwas zu hören gewesen.

Eine ganz andere Erklärung für die gegenwärtige deutsche Protestmüdigkeit liefert die empirische Sozialforschung. In der soeben erschienenen Ausgabe (4/2004) der Zeitschrift Vorgänge stellt der Züricher Volkswirt Hanno Scholtz seine internationale Vergleichsstudie zur sozialen Ungerechtigkeit vor und prognostiziert darin für Deutschland eine wachsende gesellschaftliche Akzeptanz sozialer Ungleichheit. Scholtz zufolge ist „das abnehmende Interesse an den Anti-,Hartz IV‘-Demonstrationen“ möglicherweise nur Vorbote einer langfristigen Entwicklung, „in der Deutschland von seinem auf Einkommensgleichheit fixierten Selbstbild deutlich abrückt“.

Doch wie passt zu diesem Befund, dass 1999 noch 75 Prozent der in dieser Studie befragten Deutschen meinten, der Staat müsse stärker zum Ausgleich von Einkommensdifferenzen beitragen? Scholtz leitet seine Prognose aus der so genannten Gerechtigkeitslücke ab. Sie bemisst sich aus der Differenz zwischen der von den Befragten einerseits wahrgenommenen und andererseits für angemessen befundenen Einkommensrelation von Industriearbeitern und Aufsichtsratsmitgliedern großer Unternehmen. Dabei erweist sich eine früher gemessene Gerechtigkeitslücke als weitgehend deckungsgleich mit jenen Umfragewerten, die Jahre später in den Erwartungen zur jeweils aktuellen Umverteilungspolitik erscheinen.

In Deutschland ist diese Gerechtigkeitslücke zwischen 1987 und 1999 von 78 Prozent auf 55 Prozent gesunken und das messbare Missvergnügen an ungerechten Einkommensverhältnissen damit auf einen Tiefstand gefallen. Scholtz folgert daraus, dass „die hohe Bedeutung, die die deutsche Bevölkerung historisch einer egalitären Einkommensverteilung zubilligt, bald der Vergangenheit angehören“ dürfte.

Doch Umfragestatistiken verraten nicht alles. Fiel in das Jahr 1999 mit seiner historisch kleinen Gerechtigkeitslücke nicht auch ein inzwischen längst vergessener Wahn – damals vor sechs Jahren, als gar nicht so wenige Leute glaubten, an der Börse würde nun um Wohlstand für alle und eine sichere Altersversorgung gezockt?

Um die Wandelbarkeit gesellschaftlicher Werte geht es auch in der Januar-Ausgabe des Merkurs. Hier mahnt die 1962 geborene Welt-Redakteurin Mariam Lau die Kinder der Achtundsechziger zu einer weniger reaktionär geprägten Auseinandersetzung mit der Elterngeneration. Ausgelöst wurde Laus Unbehagen durch die Lektüre von Sophie Dannenbergs Roman „Das bleiche Herz der Revolution“. Hier fühlt Lau sich „unversehens in die larmoyante Stimmung der Fünfzigerjahre zurückversetzt“. Damit treffe der Roman leider „eine Stimmung des Moments“.

Aber müsse die eigentliche begrüßenswerte Abrechnung mit Achtundsechzig ausgerechnet dazu führen, „eine neue metaphysische Verzagtheit, eine säuerliche Demut mit religiösen Anklängen, eine Mädchenpensionatsmenschheitsskepsis wieder ins Recht zu setzen“? Das Ganze einhergehend mit dem „weihevollen Jammerton“ der nachgeholten Einfühlung in die verfilmte Nemesis Hitlers im Führerbunker oder in das sicherlich gerechtfertigte Leid der Bombennächte und Vertriebenenelend der Alten? „Warum nicht versehentlich mal in Aufbaufuror und Zukunftsversessenheit ausbrechen, statt in immer neue Geschichtsobsessionen?“, fragt Lau.

Ohnehin müsse eher mal von den chronisch unauffälligen Siebzigerjahren die Rede sein, jener Epoche, in der das, was gemeinhin mit „68“ apostrophiert werde, überhaupt erst gesellschaftliche Breitenwirkung entfaltet habe. Gegenüber diesen „ewigen Epigonen“, die vom „Glanz verflossener Zeiten“ und „mit den Phantasmen von Che“ gelebt hätten, seien Vorwürfe angebracht: etwa „die Chancen der sozialliberalen Koalition nicht genutzt zu haben“ und „auch theoretisch nicht mehr über Gramsci hinausgekommen zu sein“.

So gesehen muss man sich heute schamhaft fragen, ob die retrospektive Verzagtheit der Siebzigerjahre überhaupt jemals intellektuell verwunden wurde. Doch von den Inhalten einmal ganz abgesehen: Sind wechselseitige Gefühlskälte und moralinsaure Selbstgerechtigkeit auf Kosten des Fortschritts nicht notwendige Zutat jedes Generationskonflikts?

„Vorgänge“ 4/2004, 10 €„Merkur“ 1/2005, 10 €