: Ein paar Zentimeter tiefer
PROBENBESUCH Als Regisseur und Choreograf hat sich Laurent Chétouane den Ruf eines Künstlers erworben, der nichts als selbstverständlich nimmt. Mit Sigal Zouk arbeitet er in den Sophiensælen am „Tanzstück # 3“
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Das Einfachste ist oft das Schwerste. In Utrecht, Paris und in Essen haben Sigal Zouk und Mathieu Burner das „Tanzstück # 3: Doppel / Solo / Ein Abend“ in diesem Mai schon aufgeführt, und doch brauchen sie wieder einige Tage, bevor diese Erkundung der unterschiedlichen Formen der Präsenz eines Körpers auch in den Theatersaal der Sophiensæle passt. Laurent Chétouane, Choreograf und Regisseur, beobachtet, wie Sigal Zouk eine „Linie“ probt, parallel zu den jetzt leeren Zuschauerreihen, und sich dabei vorstellen muss, wie sie angeschaut wird. Nach jedem Schritte seitwärts fasst sie den einen und den anderen der noch nicht anwesenden Zuschauer ins Auge.
„Viele Leute ertragen es nicht“, beschrieb Chétouane einmal die Reaktion auf diesen Einsatz der Blicke, „so von den Darstellern angeblickt zu werden. Es ist fast so, als würde die Frau den Mann, mit dem sie schläft, die ganze Zeit ansehen.“ Dabei ist das so simpel: Der Blick zurück ermöglicht eine Form der Teilhabe, die kurze Erfahrung eines gemeinsamen Moments mit der Tänzerin. Und das ist im besten Fall sehr anrührend.
Der Drang ins Offene
Noch aber ist kein Publikum da, noch arbeiten sie daran, wie die Spannung der Linie über die ganze Breite des Theatersaals mit seinen abgewetzten Wänden und den schwarz zugeklebten Fenstern trägt. „Wende dich am Anfang einmal, damit auch der Raum hinter deinem Rücken geöffnet bleibt“, empfiehlt Chétouane Sigal Zouk und macht ihr vor, was er meint. Er, in Jeans und Straßenschuhen, sie barfuß und in einer weicheren Hose: Was sie teilen, ist eine alltägliche Spannung der Körper, die abweicht von dem, was den Auftritt, das Darstellen, die Rolle auf der Bühne so leicht markiert. „Halbspannung“ nennen die Profis das. Oder wie nach der Pariser Aufführung ein Intendant Chétouane fragte: Wie schaffen Sie es, dass die Gesten der Tänzer alle um einige Zentimeter nach unten gerutscht wirken?
Dass etwas „geöffnet“ werden soll, ist eine der häufigsten Redewendungen des Chétouanes: das Bewusstsein der Tänzer und Zuschauer für die Grenzen des Raums und das, was dahinter kommt, öffnen. Die innere Bühne im Zuschauer öffnen, dass er sich fragt: Was sehe ich in mir, wenn ich auf den Tänzer schaue? Den Raum zwischen den Behauptungen der Sprache und den Behauptungen des Körpers öffnen.
Sein „Tanzstück # 3: Doppel / Solo / Ein Abend“ beginnt mit einem Solo von Mathieu Burner, der einen kurzen Ausschnitt aus einem Text von einem anderen Choreografen, Philipp Gehmacher, zitiert. „ich ziehe meine rechte hand von meinem oberkörper weg. der handrücken berührt meine kinesphärische Grenze, lotet diese grenze und meinen handlungsraum im aufrechten stillstand aus. ich komme darüber nicht hinaus, denn ich bin eben hier drinnen, bei mir und in mir, doch muss ich darüber hinaus, will hinweisen.“ Das sind existenzielle Überlegungen über das Sein auf der Bühne, die hier in einer puren und abstrakten Form verhandelt werden. Wie man von innen nach außen kommt, wie aus dem Körper über ihn hinaus, wie aus dem Ich zu den Anderen, wie aus dem geschlossenen Bühnenraum in die Welt, sind aber tatsächlich die großen Fragen, die das Theater zurzeit antreiben. Viele Formen von Recherche, die Einbeziehung von Laien, das Spielen außerhalb des Theaters entstehen aus diesem Grund. In diesem Sinn ist Chétouane mittendrin.
Sein stetiger Wechsel zwischen der Arbeit mit Schauspielern und mit Tänzern bleibt indes eine Ausnahme. Er hat zuletzt am Schauspiel Köln und an den Münchner Kammerspielen gearbeitet, mit dem Schauspieler Fabian Hinrichs und Texten von Shakespeare, Hölderlin, Goethe und Brecht. Auch da war Sigal Zouk teilweise schon dabei. Die Tänzer helfen Chétouane, die unterschiedlichen Qualitäten, die Präsenz auf der Bühne haben kann, auch im Schauspiel deutlicher zu machen.
Seit zwei Jahren unterstützen ihn die Sophiensæle bei seinen choreografischen Recherchen. „Nichts ist selbstverständlich. Die Gegenwart des Subjekts muss ja jede Sekunde erarbeitet werden“, sagt Chétouane. Das klingt sehr streng; dass dies den Tänzern auch viel Freiheit lässt, dass von ihnen das Material kommt, das dann genau analysiert und in kleinste Elemente aufgesplittet wird, sieht man aber auch schon auf der Probe. Sigal Zouk wiederholt nie vorgegebene Formen, sie stellt gerade auch in den bewegten Phasen immer wieder etwas neu her: Man glaubt zu sehen, wie sie in sich nach Bewegungen sucht, wie Bilder dazu entstehen und wieder verschwinden, wann Erinnerung zugreift und abgewiesen wird. Ihr Tanz hat auch sehr beredte Sequenzen, in dem sowohl aus ihrem Inneren als auch von außen Stoffe auf sie einzudringen scheinen, aber statt sich zu einer Narration zu formen, gleich wieder zersplittern. „Da will ich auch keine Kontrolle über die Bilder ausüben, die kommen und gehen“, sagt Chétouane, „das ist Sache der Tänzer“.
■ „Tanzstück # 3“, 22. + 23. Mai, 20 Uhr, in den Sophiensælen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen