Verschärfte Geheimhaltung
: Die Bank, ein treulich sorgendes Unternehmen

Meine Bank sorgt sich neuerdings um mich, was mir wiederum Sorge bereitet. Es geht dabei ausnahmsweise nicht um meine nicht vorhandene private Zusatzaltersvorsorge, sondern um meine Geheimzahl. Meine Bank fürchtet, dass gerissene Diebe diesen Code klauen könnten. Deshalb ist nun auf dem Geldautomaten ein Warnhinweis zu sehen. Wer seine Geheimzahl eintippt, soll währenddessen eine Hand über die eingebende halten. Das sieht auf dem kleinen Bildchen einfacher aus, als es in Wirklichkeit ist. Meist hält meine andere Hand einen Geldbeutel, den ich, um die Geheimzahl effektiv zu schützen, loslassen müsste. Man gerät so in eine klassische Loose-loose-Situation. Der Dieb hat eines sicher: entweder Geheimzahl oder Portemonnaie.

Ich habe lange nachgedacht, dann ist mir eine adäquate Lösung eingefallen. Zunächst hatte ich überlegt, ein Federmäppchen zum Geldabheben mitzunehmen. Mit solchen Mäppchen hatten meine Banknachbarn die Lösungsziffern ihrer Matheaufgaben immer hocheffizient vor meinen Blicken geschützt. Warum sollte das nicht auch für meine Geheimzahl funktionieren? Leider habe ich mein altes Federmäppchen nicht mehr gefunden.

Mir ist glücklicherweise eine bessere Abwehrtechnik eingefallen. Ich gebe jetzt beim ersten Mal immer eine falsche Geheimzahl ein, um den Dieb zu täuschen. Das birgt gewisse Risiken, sicher. Bei der dritten falschen Eingabe würde der Automat die Karte behalten. Bisher ist aber immer alles gut gegangen.

Der zweite Sicherheitshinweis meiner Bank bereitet mir dagegen weitaus größere Sorgen. Wenn jemand einen darauf hinweise, dass man etwas fallen gelassen habe, solle man auf keinen Fall reagieren. Mit der Geheimzahl kann das wenig zu tun haben. Kaum jemand dürfte fähig sein, sich nach dem vermeintlich verlorenen Gegenstand zu bücken und gleichzeitig etwas ins Ziffernfeld zu tippen. Dafür wären überdurchschnittliche Beweglichkeit und Körpergröße vonnöten. Vermutlich geht es bei diesem Hinweis um gewöhnlichen Diebstahl.

Seit ich die Warnung gelesen habe, bin ich in Schalterhallen äußerst unhöflich. Ich fürchte, für einen Dieb gehalten zu werden. Es ist so eine ähnliche Angst wie jene, die Herrn Lehmann jedes Mal große Bögen um die Damendusche im Schwimmbad machen lässt. Man könnte ja aus Versehen hineingeraten und für einen Spanner gehalten werden. Man könnte ja eine Person darauf hinweisen, dass ihr etwas heruntergefallen ist, und für einen Dieb gehalten werden. Wenn ich vor einem Automaten warte und jemandem fällt etwas runter, schaue ich jetzt immer ganz schnell weg.

Neulich dann ist mir etwas ganz Schlimmes passiert. Ich lief ziemlich eilig in den Raum mit den Geldautomaten. Einer dieser Automaten ist sehr hoch. Man sieht nicht, wenn jemand dahinter steht. Ich sah nicht, dass jemand dahinter stand, und bog mit gezückter Karte schwungvoll ein. Die Frau, die ich beinahe vom Bildschirm weggerammt hätte, schien nicht sicher zu sein, wie sie mein Verhalten interpretieren sollte. Freundliche Aufforderung zum spontanen Pogo-Tanzen oder geschickter Geheimzahlklau? Um die Situation zu entschärfen hätte ich sagen sollen: „Ich habe Ihre Geheimzahl gar nicht gesehen.“ Stattdessen entschuldigte ich mich schnell, ging zum nächsten Automaten und vergaß vor Schreck meine prophylaktische Falscheingabe.

JOHANNES GERNERT