schwabinger krawall: kamasutra für nachbarn von MICHAEL SAILER
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Seit gut vierzehn Tagen findet Herr Hammler, wenn er von seinem Spaziergang zurückkehrt, seine Frau jedes Mal mit hochrotem Kopf am Fensterbrett vor, zitternd vor Aufregung, ziemlich verrenkt und, wenn es die Witterung zulässt, gefährlich weit zum Fenster hinausgehängt. Schließlich fasst er sich ein Herz und fragt, was es denn da Besonderes zu sehen gebe.

Es sei unerhört, erklärt Frau Hammler: In die Wohnung von der armen Frau Scheller, der man den unehelichen „Bekannten“ als Tagelöhner nach Cottbus verhartzt habe und die in letzter Zeit deswegen nicht mehr ein und aus gewusst und außer Trinken ja kaum mehr etwas getan habe und jetzt in so einen Silo am Mittleren Ring ziehen habe müssen, weil sie kein Wohngeld mehr bekomme – Herr Hammler führt kurbelnde Handbewegungen durch, um den Stand der Geschichte schneller in die Gegenwart zu bringen –, jedenfalls in diese Wohnung sei ein Paar eingezogen, dem den ganzen Tag nichts Besseres einfalle, als bei Festbeleuchtung Dinge zu tun, von denen sie überhaupt nur wisse, was es sei, weil ihr als kleines Mädchen einmal ein komischer Kaplan heimlich den Kamasutra gezeigt habe.

Und weil die Wohnung gegenüber zwei Stockwerke tiefer liege und diese modernen Leute natürlich keine Vorhänge an die Fenster hängen, müsse man sich diesen Spektakel den ganzen Tag lang bieten lassen. Das, finde sie, gehe entschieden zu weit. Schließlich habe man als Nachbar ein Recht auf eine Privatsphäre und wohne nicht in einem Rotlichtviertel.

Sie solle halt in Gottes Namen in eine andere Richtung schauen, seufzt Herr Hammler, doch seine Frau ist nicht zu beruhigen. Seine Wurstigkeit sei mal wieder typisch, aber sie lasse sich so etwas nicht bieten, sondern gehe jetzt hinüber und blase diesem Geschwerl den Marsch. Als Herr Hammler den Mund aufbringt, um sie darauf hinzuweisen, dass sie in Küchenschürze und Filzpantoffeln unterwegs ist, ist es schon zu spät.

Eine gute Stunde lang beherrscht er sich, um nicht selber aus dem Fenster zu sehen, dann kehrt Frau Hammler zurück – strahlend und bester Laune. Es handle sich, sprudelt sie los, bei den Zugezogenen um ein enorm berühmtes Schauspielerpaar, das sie selbst jede Woche in einer Vorabendserie sehe und wahrscheinlich bloß aufgrund der ungünstigen Lichtverhältnisse nicht gleich erkannt habe und das übrigens fürchterlich nett sei und ihr ohne weiteres ein Autogramm gegeben habe.

Das, sagt Herr Hammler, erkläre natürlich alles, auch die Sittenlosigkeit häuslichen Verhaltens. Man dürfe, bescheidet ihn seine Frau, das nicht so eng sehen; schließlich seien das Künstler, die hätten andere Bedürfnisse als er, der sich im Übrigen ja auch alles Mögliche im Fernsehen anschaue, ohne sich je zu schämen, und schließlich müsse man froh sein, prominente Menschen als Nachbarn zu haben.

Also hängt Frau Hammler auch weiterhin am oder aus dem Fenster, mit dem Unterschied, dass sie nun von Zeit zu Zeit heftig winkt und ein strahlendes Gesicht zur Schau trägt, was ihr Mann, auf die Unstetigkeit künstlerischer Lebensplanungen hoffend, mit einem gelegentlichen Kopfschütteln, ansonsten aber stumm hinnimmt.