Von Januargedanken

Das SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Dass wir heute im Fremden uns selbst entdecken können, ist eine vergleichsweise junge Fähigkeit

Nichts ist nach Weihnachten so sehr vorbei wie Weihnachten. Als Kind achtete ich darauf, nie zu Hause zu sein, wenn die Kugeln vom Baum abgenommen wurden. Es war zu traurig. In unserem Neubauviertel in Rostock warfen manche ihre Bäume einfach über den Balkon. Ich sah die weihnachtsbaumwerfenden Familienväter, die eben noch mit ihren Kindern „O Tannenbaum“ gesungen hatten und bekam eine Ahnung vom Wesen des Menschen.

Es ist nicht viel von ihm zu erwarten. Wozu hatten die eigentlich einen Baum? Wahrscheinlich nur wegen der Konvention. Kein Mensch käme von selbst auf die Idee, sich einen abgesägten, bunt behangenen Baum ins Zimmer zu stellen. Das ist die Macht der Tradition. Sie ist irreal, eine Massensuggestion. Und nun schüttelten die Massen die Macht der Tradition wieder ab. Oder wie Immanuel Kant das formulierte (auch wenn keiner im Post-Kant-Jahr so out ist wie ausgerechnet Kant, allerdings war Schiller auch Kantianer, weshalb …, aber das ist jetzt nicht ganz das Thema), Kant also hat gesagt, dass der Mensch aus so krummem Holze geschnitzt ist, dass ohnehin niemals etwas Gerades aus ihm werden kann.

Obwohl der Vergleich klingt, als hätte Immanuel Kant aus Königsberg die DDR-Weihnachtsbäume gekannt. Die waren nämlich auch alle krumm. Es gab keine geraden DDR-Weihnachtsbäume. Es sind meistens die Beiläufigkeiten, an denen man das Wesen erkennt. Anhand der Nachwende-Weihnachtsbäume habe ich zum Beispiel die absolute und bedingungslose Überlegenheit des Westens über den Sozialismus verstanden. Nicht nur, dass die Ostfichten krumm und schief waren – wahrscheinlich war das ihre Art von Protest gegen das System –, sie nadelten auch schon beim Kauf. Tannen gab es fast nie.

Und das muss man zur Entschuldigung der Fichtenwerfer aus der Rostocker Südstadt sagen: Wer den Baum die Treppe hinabtrug, hielt ihn unten fast kahl in den Händen, und wer sollte die ganze Schweinerei wieder wegfegen? Die anderen Kinder bauten sich Höhlen aus den Bäumen, in deren Zweigen noch Reste von Lametta hingen, weil die sich nicht schnell genug herunterzerren ließen. Obwohl die meisten Familien das Lametta sorgfältig abnahmen, erst recht das schöne schwere Bleilametta von drüben, aber ich weiß schon, nichts ist nach Weihnachten so peinlich wie Weihnachten. Nur ist in diesem Jahr ohnehin alles anders. Die Nächstenliebe, auch in ihrer Mutation der Fernstenliebe, gehört schließlich auch in die Vorweihnachtszeit, genau wie das Mitleid. Im Januar werden wir normalerweise wieder hart wie die Eiszapfen.

Nur in diesem Jahr fangen das Mitleid und die Fernstenliebe erst nach Weihnachten richtig an, und draußen ist es so warm, dass die Vögel denken, es wird Frühling. Wenn das die globale Erwärmung ist, ist sie vielleicht doch keine so schlechte Sache. Und wir Deutschen sind ganz gerührt über uns selbst, über die eigene Gutheit, weshalb manche Journalisten nörgeln, dass wir über dieser einen Welle sämtliche Dürren der Erde vergessen. Andere beeilen sich aufzudecken, dass unser angeblich rekordverdächtiges Mitleid erstens nur eine besonders pervertierte Form der Eigenliebe ist (was schon Nietzsche wusste) und außerdem ein ganz ordinäres tierisches Erbteil. Denn auch Tiere hätten dem Mitleid vergleichbare Regungen. Es ist nichts besonders Edles, nur nützlich zum Überleben der Gattung. Das sind auch typische Januargedanken. Gedanken, wenn sie etwas taugen, sind kalt wie ein Kühlschrank. Überall gilt das Warme als das Positive und das Kalte als schlecht, nur beim Denken ist das anders. Ein kalter Kopf ist gut, ein heißer Kopf ist krank und deutet auf Fieber. Es ist schon wahr, Januargedanken sind haltbarer als Dezembergedanken, und doch möchte man den Entlarvern des Mitleids widersprechen.

Warum dieses Mehr-als-100-Millionen-Spender-Volk kleiner machen als es ist? Es gibt Sätze wie Grundwahrheiten. Man hört sie und sie brennen sich ein, unverlierbar. Vielleicht begegnet man nur einer Handvoll solcher Sätze in einem ganzen Leben. Einen davon hörte ich im letzten Jahr: Solidarität ist eine sehr endliche menschliche Ressource, vielleicht die endlichste überhaupt. Ich weiß nicht mehr, wer das gesagt hat, aber dieser Satz bestimmte fortan den Blick auf die menschlichen Dinge.

Dass etwas davon stimmt, haben wir an uns selbst erfahren. Seltsam klangen die Berichte der ersten West-Expeditionen, also unserer Verwandten, die irgendwann eine erweiterte Ausgeherlaubnis bekamen, weil sie schon so alt waren, sodass die DDR im Falle ihres ultimativen Fortbleibens einfach eine Rente mehr gespart hätte. Sie erklärten uns die Glitzerwelt der Boulevards und dass neben diesem ungeheuren Reichtum manchmal Mütter mit Babys im Arm sitzen, und die Menschen gehen blicklos an ihnen vorbei. Wir konnten es nicht glauben. Was muss das für eine Welt sein, in der alles glänzt, alles so schnell ist, dass es sich immerzu selbst überholt, nur eines ist offenbar ganz langsam – das Herz. Von der „Trägheit des Herzens“ hatte Jakob Wassermann gesprochen. Damals wussten wir noch nicht, dass später einmal nicht Mitleid unser Hauptaffekt sein würde beim Anblick solcher Straßenszenen, sondern ohnmächtige Wut auf Frauen, die das mit sich und ihren Kindern machen lassen. Als DDR-Prominente erklären sollten, warum sie immer wieder in die DDR zurückkehrten, nannten sie als Grund oft den Anblick offenen Elends, der ihnen anderswo unerträglich war. Hätten ja nicht losfahren müssen, dachten wir. Aber der Affekt der Zurückkommer war doch echt, wenn auch naiv. Und man sieht sich immer noch mit dem Blick von damals selber zu, bei jedem Obdachlosen-Zeitungsverkäufer, der vorübergeht, ohne dass man ihm eine Zeitung abkauft.

Härte und Weichheit sind sehr veränderliche Relationen, das haben wir gelernt. Und die Spendenbereitschaft der Deutschen ist etwas Enormes. Eine schöne Wassermann-Widerlegung. Sollte die Solidarität doch keine so ganz endliche Ressource sein?

Das Warme gilt als das Positive und das Kalte als schlecht, nur beim Denken ist das anders

Denn die modernen Aufklärer, die uns der Fernstenliebe als verkappter Eigenliebe überführen möchten und das Mitleid zu unserem tierischen Erbteil erklären, übersehen das Wichtigste: Dass das Mitleid doch eine spezifisch menschliche Regung ist, vielleicht ist es das Humanum selber. Nur blieb es die längste Zeit begrenzt auf die Kommunen des eigenen Bluts, des gleichen Herkommens. Die Tradition kennt die Solidarität mit dem Eigenen, mit der Familie, dem Stamm. Den anderen kann man seelenruhig beim Untergehen zusehen. Dass wir heute im Fremden uns selbst entdecken können, ist eine vergleichsweise junge Fähigkeit. Sie setzt den Abbau der Bindekräfte von Familie und Abstammung voraus. Seht ihr, sagen nun die Universalethiker, und das alles bewirken die universalen Werte und die Menschenrechte. Für Universalethiker sind Solidarität und Mitleid nur Sentimentalitäten, auf denen man niemals eine haltbare Moral errichten kann. Genau wie für ihre journalistischen Kofferträger, die Januardenker. Aber gibt es das denn, eine haltbare Moral? Was sie übersehen, ist das Zarteste: dass wohl doch etwas möglich ist wie die Erziehung der Gefühle. Und dass die universalen Werte nicht das Primäre, sondern das Abgeleitete sind.

Fotohinweis: Kerstin Decker ist Journalistin in Berlin