„Jedes dritte Kind ist gestört“

Kinderärzte sollen immer öfter Entwicklungsstörungen behandeln. Verbandssprecher Ulrich Fegeler meint: Versagen Familien, helfen Therapien kaum. Er fordert standardisierte Förderung in Kitas

INTERVIEW SABINE AM ORDE

taz: Herr Fegeler, Sie haben ein Kita-Modellprojekt mitinitiert, das sehr erfolgreich ist. Zwei Bezirke wollen nach diesem Modell jetzt Sprachförderprogramme in allen städtischen Kitas einführen. Warum engagiert sich ein Kinderarzt für bessere Kitas?

Ulrich Fegeler: Die Arbeit der Kinderärzte hat sich sehr geändert. Früher hatten wir mit der Bekämpfung von Epidemien, Seuchen und Infektionskrankheiten zu tun, die in vielen Fällen zum Tod geführt haben. Inzwischen haben wir ein solides Impfsystem, viele Erkrankungen wie Diphterie, Polio oder schwere Infektionen gibt es nicht mehr. Heute haben wir ganz andere Probleme. In unsere Praxen kommen zunehmend Kinder, die an massiven Entwicklungsstörungen leiden. Medizinisch haben wir da wenig Möglichkeiten: Wir können Sprach-, Bewegungs- oder Beschäftigungstherapie verschreiben, aber das nützt meist wenig. Ich frage mich immer häufiger: Was mache ich da eigentlich?

Wie äußert sich das konkret in Ihrer Praxis?

Bei den großen Vorsorgeuntersuchungen, der U 8 und U 9, zu denen Kinder mit vier und fünf Jahren kommen, stellen wir fest, dass viele Kinder motorisch ungeschickt sind und dass sie keine vollständigen Sätze bilden können. Das trifft viele Migrantenkinder, aber auch viele Deutsche. Diese Kinder werden in der Schule gigantische Probleme haben. Im Grunde ist schon klar, dass die Hälfte der Kinder, deren Sprachentwicklung gestört ist, die Schule nicht schaffen wird. Sie sind zudem häufig verhaltensauffällig, unruhig, konzentrationsgestört, aggressiv. Das alles zeigt, dass es in der frühkindlichen Entwicklung zu wenig Anregungen gegeben hat.

Was heißt das genau?

Die Kinder werden nicht genug gefördert. Man liest ihnen nicht vor, schaut keine Bilderbücher an, geht nicht mit ihnen in den Wald oder auf den Spielplatz, spielt nicht Ball oder Gummitwist. Motorik hat ganz viel mit Intelligenz zu tun. Die Kinder bekommen auch zu wenig Leitung und Orientierungshilfe. Und sie werden in anderer Hinsicht allein gelassen, zum Beispiel, was das Essen angeht. Viele Kinder haben Ernährungsprobleme, immer mehr sind zu dick. Die Kinder kriegen zu wenig Anregungen. Viele holen sie sich, wenn überhaupt, aus dem Fernseher. So gehen eigene Fantasien und innere Bilder verloren, die Eigenaktivität der Kinder geht unter. All das führt dazu, dass sie auffällig werden.

Auf wie viele Kinder trifft das zu?

Wir finden Entwicklungsstörungen durchschnittlich bei jedem dritten Berliner Kind. In eher bürgerlichen Gebieten, wo viele Menschen mit höherem Bildungshintergrund leben, werden es weniger sein als in den sozialen Brennpunkten. Da sind sicher die Hälfte oder sogar zwei Drittel der Kinder betroffen.

Ist das ein Großstadtphänomen?

Nur bedingt. In Berlin ist es besonders ausgeprägt, weil wir hier viele soziale Brennpunkte haben – und es vor allem ein Schichtenproblem ist. Generell aber handelt es sich um eine bundesweite Tendenz. Studien zum Beispiel in Bayern und Salzgitter haben Ähnliches festgestellt.

Sind diese Kinder krank? Sind sie bei Ihnen überhaupt richtig?

Nein. Diese Kinder werden pathologisiert. Sie haben Sprachentwicklungsstörungen und motorische Schwierigkeiten. Ursache ist in den meisten Fällen eine nicht ausreichende Anregung der Basisressourcen, über die fast jedes Kind verfügt. Nur bei 10 bis 15 Prozent der Kinder haben diese Störungen somatische Ursachen. Die anderen Kinder sind nicht krank. Dennoch verschreiben wir den meisten von ihnen Entwicklungstherapien wie Logopädie und Ergotherapie. Die sind teuer: Eine Basistherapie für ungefähr ein Jahr kostet 1.500 Euro. Eine solche Therapie bekommt jedes dritte Berliner Kind bis zum achten Lebensjahr, derzeit dürften das 50.000 Kinder sein. Und ob diese Therapien wirklich Abhilfe schaffen, wissen wir nicht.

Warum?

Mit Logopädie, also Sprachtherapie, lernen die Kinder, einfache Sätze richtig zu sprechen. Aber werden sie hinterher auch Sprache wirklich verstehen? Häufig kommen diese Kinder später mit der Diagnose „auditive Wahrnehmungsstörung“ zu uns in die Praxis. Das heißt, sie hören etwas, aber sie verstehen es nicht. Viele Studien zeigen, dass diese Kinder später zum Beispiel Lese-Rechtschreibschwächen haben. Für die Ergotherapie gilt Ähnliches. Einen sozialen Anregungsschaden wird man durch eine solche Therapie nicht ausgleichen.

Sie verschreiben Sie trotzdem?

Ja. Wenn man bei den Kindern sieht, dass in den Familien zu wenig passiert, dann muss man etwas tun. Aber wirklich sinnvoll ist das sehr häufig nicht. Medizinische Födermaßnahmen können familiäre Ursachen nicht beseitigen. Sie können nicht einmal die Folgen heilen. Wir medikalisieren ein Problem, dessen Lösung ganz woanders liegt.

Wo?

Wir müssen die Kinder früher fördern. Und da meine ich: Wenn das die Familie nicht schafft, was zunehmend der Fall ist, müssen es die Kindertagesstätten tun. Bislang hängt alles davon ab, ob es dort eine engagierte Kitaleiterin und eben solche Erzieherinnen gibt. Darauf kann man sich nicht verlassen. Wir brauchen evaluierte und standardisierte Motorik- und Sprachprogramme in allen Kitas. Wenn wir das hätten, dann bräuchte ein Großteil der Kinder keine Therapie. Und diese Kinder hätten eine Chance. Das haben wir mit unserer Studie gezeigt. Wir müssen das Geld statt in Therapien in die Kitas stecken. Es ist gut, dass Tempelhof-Schöneberg und Spandau jetzt diesen Schritt tun. Aber das reicht bei weitem nicht. Wir vergeigen eine ganze Generation.

SPD-Bildungssenator Klaus Böger hat verschiedene Reformen auf den Weg gebracht, Materialien wie den Sprachförderkoffer entwickeln lassen. Was halten Sie davon?

Der Sprachförderkoffer ist nicht evaluiert, dahinter steckt kein Konzept. Ich fürchte, bei Herr Böger läuft zu wenig Aktives. In Berlin fehlt einfach ein Gesamtkonzept. Deshalb werden Dinge wie der Sprachförderkoffer so hochgekocht.

Teilen die meisten Berliner Kinderärzte Ihre Position?

Ja, das ist weitgehend einhellige Meinung. Und nicht nur hier. Ich habe unsere Ideen auf dem Kinder- und Jugendärztekongress vor zwei Jahren in Weimar vorgestellt und da war die Unterstützung sehr groß. Ich habe gesagt, wir müssen raus aus der Medizin. Da haben die Ärzte gejubelt.