Abgeordnete der Herzen

Die Vorstellungen vom idealen Parlamentarier sind ebenso klar wie vielfältig. Der Bürger sieht ihn dem Gemeinwohl verpflichtet, er selbst findet sein Ideal im Manager

Das Bild vom guten Abgeordneten unterscheidet sich nach den politischen Lagernin der Bevölkerung

Hinter der Diskussion um die Veröffentlichung des Zuverdiensts von Bundestagsabgeordneten lauern zwei peinliche Fragen: Was halten wir eigentlich von unseren Parlamentariern? Und wie, bitte, sollten sie aussehen, um uns zufrieden zu stellen? Offensichtlich klafft zwischen der Selbsteinschätzung der Betroffenen als hart arbeitende und mäßig entschädigte Volksvertreter und dem miesen Image bei der Bevölkerung eine Kluft, die sich ständig weitet.

Vorurteile aus trüben Quellen, die sich generell gegen die Parlamentarier als Diebe und Lügner richten, reichen zur Erklärung nicht aus. Denn es ist schlecht bestreitbar, dass die parlamentarische Arbeit seit den Wahlen von 2004 einen erneuten, dramatischen Bedeutungsverlust erlitten hat. Die Agenda 2010 war dem Kopf des Bundeskanzlers unter Geburtshilfe demokratisch nicht legitimierter Beraterstäbe entsprungen – vorbei an den die Koalition tragenden Parteien. Durchgesetzt gegenüber massiven Vorbehalten der Bevölkerungsmehrheit, die zu artikulieren doch die Aufgabe der Parlamentarier gewesen wäre. Auf Seiten der oppositionellen Volkspartei CDU bietet sich das gleiche Bild. Auch hier die Herrschaft einer durch Experten abgesicherten scheinbaren Sachlogik. Innerparteiliche Diskussionen mit offen gehaltenem Ausgang fanden hier wie dort nicht statt. Stets ging es um Nachvollzug.

So what? Hat uns nicht schon vor nahezu hundert Jahren die Parteiensoziologie darüber belehrt, dass ein enger Kreis, die Machtelite, mit einem charismatischen Führer an der Spitze, die politische Agenda beschließt und sie anschließend in den jeweiligen Parteien durchsetzt? Gilt heute nicht, dass im modernen Parteienstaat die Mittlerfunktion der Parteien, also auch der von ihnen abhängigen Abgeordneten, gegenüber den Bürgern ständig nachlässt? Gegenwärtig kann sogar konstatiert werden, dass das Interesse an Politik sich wieder verstärkt, aber um die Parteien und um das Parlament als wichtigste Institution des Parteienstaates einen weiten Bogen schlägt.

Und dennoch: Trotz aller Krisensymptomatik des Parteienstaats, die am Ansehen des Parlamentariers nagt, halten sich in der öffentlichen Imagination, sagen wir in der Fantasieproduktion vieler politisch interessierter Menschen, Vorstellungen und Wertmaßstäbe darüber, wie ein Abgeordneter eigentlich sein und was er tun sollte. Solche Vorstellungen speisen sich aus einem zwar sehr alten, aber gleichzeitig sehr aktuellen Reservoir, dem des Gemeinwohls. Sehr alt, weil das bonum commune seit der Antike als Ziel der politischen Tätigkeit gilt. Sehr aktuell, weil – empirisch nachweisbar – sich im Begriff des Gemeinwohls Gerechtigkeitsvorstellungen sedimentieren, die den Kernbestand sozialstaatlichen Handelns ausmachen.

Aber welcher Parlamentarier würde nicht sofort für sich reklamieren, Diener am Gemeinwohl zu sein, natürlich wie er es politisch versteht und umsetzt? Dieser Dienst hat nur einen Haken. Er setzt einen Habitus voraus, er verlangt die Beachtung bestimmter Regeln und Verhaltensweisen, die überwiegend in keinem Gesetz auftauchen, aber dennoch seitens des Publikums Geltung beanspruchen. Sie kleben an der Person des Parlamentariers, nicht an dem von ihm gepflegten Selbstbild.

Vermutungen wie diese begegnen sofort dem Einwand, sie seien gänzlich konstruiert. Denn vom Parlamentarier würde heute nur noch eines erwartet: ein Minimum an Unterhaltungswert. Den Rest erledigten sowieso die Stäbe der Ministerien samt nachgeordneten Apparaten. Erscheinungsbild, spontaner Witz und geschliffene Rede würden demnach den perfekten Parlamentarier abgeben. Aber dieser Eindruck trügt. Mag ein Politiker auch schrumplig, öde und gänzlich ohne rhetorischen Glanz auftreten. Er wird die Herzen gewinnen, wenn die Leute zu dem Ergebnis kommen: er sorgt sich um uns – und seiner Sorge lässt er Taten folgen.

Das Bild vom guten Abgeordneten unterscheidet sich nach den politischen Lagern in der Bevölkerung. In der konservativen Fantasieproduktion ist der gute Abgeordnete durch seinen Beruf sichergestellt, kann seiner politischen Leidenschaft für die Polis nachgehen. Er gehört einer politischen Partei an, folgt aber in wesentlichen Fragen seinem eigenen, prinzipiengeleiteten Urteil. Er bejaht die politische Elite als Garant des Gemeinwohls und fühlt sich ihr zugehörig. Er sorgt sich ums Volk aus seiner überlegenen Warte, hat keine Berührungsängste. Sein Auftreten ist bescheiden, er verabscheut Prunk. Und er ist Realist. Visionen sind ihm ein Gräuel. Reformen hingegen, sofern sie das gesellschaftliche Gefüge im Ganzen unberührt lassen, wird er unterstützen. Er handelt nach dem Motto: „Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist.“

In der linken Imagination folgt der gute Abgeordnete ebenfalls fest gefügten Prinzipien, fühlt sich in deren Verfolgung aber den ökonomisch und sozial Schlechtergestellten verbunden. Er möchte deren Sprecher sein. Seine Vorstellung von Führung funktioniert nicht losgelöst von gesellschaftlichen Bewegungen. Die parlamentarische Arbeit ist ihm deshalb nicht Erfüllung, nicht Selbstzweck, sondern bedarf der ständigen Rückkopplung. Er geht zu den Leuten, hört auf sie, entfernt sich in seiner Lebensweise nicht allzu sehr von ihnen. Ohne weitreichende Programmatik kann er politisch nicht leben. Auch er ist Realist, sucht aber Vermittlungsschritte. Weshalb seine Vorstellung von Reform nie abgeschlossen ist.

Beide Bilder haben trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft Gemeinsamkeiten. Deren wichtigste sind grundsatzgeleitetes Handeln, Unbestechlichkeit, Abscheu vor Selbstdarstellung und eben – der „gelebte“ und daher nachprüfbare Bezug aufs Gemeinwohl. Überflüssig zu sagen, dass weder auf der Rechten noch auf der Linken die gegenwärtigen Parlamentarier diesen Wunschbildern entsprechen. Dennoch geht von ihnen empirisch beobachtbar eine starke regulative Kraft aus.

Der Einwand, von Politikern werde heute nur nochUnterhaltungswert erwartet, ist falsch

Wissen die Abgeordneten um die Zähigkeit der Wunschbilder vom guten Abgeordneten? Sagen wir, sie werden von ihnen zur Nachtzeit heimgesucht, in unruhigen Träumen. Denn am Tage folgen sie einem diametral entgegengesetzten Leitbild, dem des Managers der „freien Wirtschaft“ samt der ihn umgebenden Management-Kultur. Der erfolgreiche Manager ist der Heros, der ökonomischen Rationalität seiner Entscheidungen gilt es nachzueifern, ohne Rücksicht auf den sozialen Konsens, der den rheinischen Kapitalismus über die Jahrzehnte geprägt hat. Wie der Abgeordnete die Gehälter der Manager auch für den Maßstab ansieht, nach dem er selbst für seine Mühen entlohnt werden will.

Was aber, wenn das Image des Managers selbst in die Krise gerät und die schlechte Reputation beider Sparten sich gegenseitig hochschaukelt, wofür es einige beobachtbare Anzeichen gibt? Der Krise des Leitbilds wird die Krise der Selbsteinschätzung folgen. Ergebnis? Offen.

CHRISTIAN SEMLER