Vom Versuch, durch die Zellentür zu denken

Heute vor 15 Jahren wurde die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße gestürmt, der DDR-Spitzelapparat schien endgültig besiegt. Doch ganz in der Nähe saßen noch Dissidenten im zentralen Stasi-Knast des geheimen Sperrbezirks Hohenschönhausen. Mike Fröhnel war hier Jahre in Einzelhaft

Vom Mauerfall bekommt Fröhnel nichts mit: Er sitztin Absonderungshaft

VON PHILIPP GESSLER

Es gibt einige, die Geschichten wie die von Mike Fröhnel nicht mehr hören wollen – wie auch anders in einem Land, in dem das „Schlussstrich“-Verlangen eine unselige Tradition hat. Die Opfer der zweiten deutschen Diktatur wie Fröhnel haben keine Lobby, und natürlich scheint vor der Folie des Nazireichs fast alles harmlos, was das SED-Regime mit seinen Gegnern angestellt hat. Es lebte sich ja auch so sicher und kommod im Arbeiter-und-Bauern-Staat, wenn man den Mund nicht aufmachte. Die Arbeitsplatzsicherheit in der DDR hat dabei heute die Funktion des „Autobahnbaus“ nach 1945 übernommen: Es war ja nicht alles schlecht damals.

Wer so denkt, den muss sie stören, die Geschichte Fröhnels, die heute zu erzählen ein guter Anlass ist: Es jährt sich zum 15. Mal der Sturm politisch bewegter Bürgerinnen und Bürger auf die Stasi-Zentrale in der Lichtenberger Normannenstraße. Und es ist bezeichnend, dass damals ein nicht minder wichtiger Ort des DDR-Unterdrückungsapparats außen vor blieb: das zentrale Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Hohenschönhausen, ganz nahe. Die Haftanstalt befand sich in einem streng geheimen Sperrgebiet, das auf keinem Ostberliner Stadtplan eingezeichnet war. Hier wurden die Abhöranlagen und Geheimkameras der Stasi gebaut, alle Verhaftungsabteilungen des MfS und die 18 Stasi-Gefängnisse der DDR gelenkt. Hier litt Fröhnel.

Bis zu 40.000 Menschen waren in diesem Sperrgebiet mitten in Berlin seit 1945 inhaftiert, zuerst unter der Aufsicht des sowjetischen Geheimdienstes NKWD, ab 1951 unter der Kontrolle des MfS. Vor allem Republikflüchtlinge und Bürgerrechtler saßen hier. Mike Fröhnel kam erstmals im April 1984 in das zentrale Untersuchungsgefängnis in Hohenschönhausen, mit gerade mal 19 Jahren. Da hatte er schon ein halbes Jahr in einer Jugendstrafanstalt in Halle hinter sich: Mit 17 hatte er auf dem Alex einen Polizisten in Zivil angerempelt, wie er erzählt. Das hatte ihm die Haftstrafe in Halle bis Oktober 1982 eingebracht. Nun also nach dem Verteilen eines regimekritischen Flugblatts (Auflage: sechs Stück) wieder Haft. Weit weg, mitten in Berlin.

Mike Fröhnel steht in seiner Zelle 120, hier hat er in Einzelhaft gesessen. Vielleicht acht Quadratmeter ist die Zelle groß. Es gibt eine Holzpritsche mit einer rutschigen, dünnen Matratze, bezogen ist sie mit einem blau-weißen Blümchenmuster. Ein Waschbecken mit Spiegel an der einen Wand, ein Hängeschränkchen an der anderen – und ein Klo, das stank. Ein Fenster aus gerillten Glasbausteinen, damit man draußen nichts erkennt. Das war’s. Genau 15 Stunden hatten die Häftlinge in solchen Zellen wach zu sein, alle zwei Minuten schaute ein Wächter durch eine Luke in der Tür. Jeglicher Kontakt mit anderen Häftlingen war verboten und wurde unterbunden.

Was tut man 15 Stunden lang? Fröhnel hat Schwierigkeiten, das zu erklären: Man denke nach, versuche, Bücher im Kopf weiterzuschreiben, die man gelesen habe, erinnere sich an Gedanken, die man nicht zu Ende gedacht habe. Manchmal gebe es auch mal was zu lesen, „,mit Glück“ ein Klassiker, Krimis waren verboten. „Du versuchst, dich durch die Zellentür zu denken“, erzählt Fröhnel, „irgendwann gewöhnst du dich auch an den Umstand Knast.“ Wenn man dann rauskommt, erzählt Fröhnel, hat man Schwierigkeiten, weil einem niemand mehr sagt, wann man aufzustehen und zu essen hat.

Fröhnel war nie angepasst. Schon als Schüler wollte er nicht in die FDJ, weil ihn der Militarismus und die Sprache in der DDR zu sehr an die Nazizeit erinnerten. Nach seiner ersten Entlassung aus dem Knast im Oktober 1985 dauerte es nur wenige Wochen, bis er wieder eingeliefert wurde. Es gab eine Hausdurchsuchung, ein Fluchtplan in den Westen wurde gefunden. Wieder zwanzig Monate Haft, wieder vier Monate in Hohenschönhausen. Als er im Juli 1987 entlassen wird, hat er mit diesem Staat vollends gebrochen. Er muss als eine Art Laufbursche in einem Krankenhaus arbeiten, früher wollte er Lokomotivführer werden. Auch das wurde ihm verwehrt. „Reduziert auf ein Nichts“ sei er gewesen, erzählt Fröhnel, „wiedergeboren als etwas Unangenehmes.“ Er „kannte keine Schranken mehr“, habe nur noch rumgepöbelt, war aggressiv.

Obwohl er Berlin nicht verlassen darf, setzt er sich ab in eine Art Künstler-Kommune in Tschechien. Nach anderthalb Monaten wird die 1987 vom Geheimdienst der ČSSR aufgelöst, sie gilt als oppositionell. Fröhnel kommt anderthalb Monate „in Tschechenhaft“ – das sei so hart gewesen, dass er darüber nicht reden wolle. Dann wird er wieder nach Hohenschönhausen überstellt, diesmal wegen „ungesetzlichem Grenzübertritt“. Ab Dezember 1987 ist er wieder in Haft, zunächst in seiner alten Zelle 120, später in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz. Für ihn gilt bald „Absonderung“, eine Art verschärfte Einzelhaft.

Dieser „Absonderung“-Status begründet, warum Fröhnel vom Mauerfall am 9. November 1989 nichts mitbekommt – er sitzt immer noch in Chemnitz. Am 30. November 1989 wird er, nach dem Abbüßen der gesamten Haftzeit, aus der Haft entlassen. Er muss zurück nach Berlin und sich dort am nächsten Tag bei der Polizei melden. Insgesamt sechs Jahre saß Fröhnel im Knast, „die ganze Jugend“, wie er sagt. Erst in seinem Stammlokal in Lichtenberg erfährt er von Kumpels: Die Mauer ist weg. Sie können nicht glauben, dass er es nicht weiß. Er ist sauer, fühlt sich von ihnen „verarscht“.

Am 1. Dezember 1989 geht Fröhnel mit einem neuen Ausweis und einem Ausreisevisum zum Grenzübergang Invalidenstraße. Der DDR-Grenzer stempelt das Dokument und winkt ihn einfach durch. Ein paar Schritte bis zum weißen Strich, der die Staatsgrenze darstellte, das heutige Pflastersteinband im Asphalt. Fröhnel atmet schwer, ihm wird schwarz vor Augen, bewusstlos bricht er zusammen.

Seit mehr als zehn Jahren macht Fröhnel nun Führungen im Stasi-Knast Hohenschönhausen, zeigt seine Zelle 120 – und noch heute erzählt er darin seine Geschichte so frisch, als erzählte er sie erstmals. Viele SED-Opfer sind verbittert, fühlen sich betrogen durch den neuen gesamtdeutschen Staat, weil er ihre Leiden nicht so anerkennt, wie sie es für nötig erachten. Fröhnel ist nicht bitter. Man lacht viel, wenn er seine Geschichte erzählt, und auch den neuen Staat sieht er kritisch: von einer „Diktatur des Geldes“ spricht er. Vor 15 Jahren stürmte das Volk die wirkliche Zentrale der Macht in der DDR, weil sie wissen wollte, wie ihre eigentliche Geschichte war. Viele wollen heute Geschichten wie die von Mike Fröhnel nicht mehr hören. Er muss sie noch oft erzählen.