Kotzgrün dank Neigetechnik

Bei Zugfahrten durchs Thüringische kämpft der Bahn-Fahrgast um sein Leben

Neigetechnik wohl deshalb, weil du bis zur bitteren Neige grüne Galle von dir gibst

Wenn du, Reisender, mit dem Zug von Berlin nach München fahren willst, hast du die Wahl. Du kannst über Göttingen–Frankfurt–Stuttgart fahren. Bei Vielfahrern heißt diese Route „Hintenrum (West)“. Sie ist berühmt für ihre langen Tunnels und das Blade-Runner-Denkmal, das da heißt Kassel-Wilhelmshöhe.

Oder du fährst über Leipzig–Naumburg–Nürnberg, „Hintenrum (Ost)“ genannt. Die zweite Route bietet ungezählte Vorteile: Erstens ist sie billiger. Du hältst in einem Bahnhof, der Jena Paradies heißt und nicht in Mannheim Hölle. Der Zug juckelt an der Saale hellem Strande entlang, und du freust dich, dass Deutschlands letzter Wasserstraßenfußballer, Manfred Stolpe, ihre eleganten Mäander noch nicht schiffsgerecht verstümmelt und ausgebaggert hat.

Wenn du ab Berlin in Fahrtrichtung sitzt, wechselst du in Leipzigs schönem Kopfbahnhof in die „Engel-der-Geschichte-Stellung“ und sitzt dann mit dem Rücken nach vorne, während der Sturm vom Paradies herweht. Viele Fans von Walter Benjamin schwören, der Meister habe sich immer gegen die Fahrtrichtung gesetzt, um in Schreibstimmung zu kommen.

Alles könnte so schön sein, wenn der ICE auf dieser Strecke nicht mit Neigetechnik ausgestattet wäre. „Bei dieser seit Jahrzehnten in Italien bewährten Technik neigt sich der Zug bei Kurvenfahrt wie ein Motorradfahrer mit bis zu 8° in die Innenseite“, verkündet die Bahn stolz auf ihrer Homepage und verrät, wovon die kleinen Easy Riders vorn im ICE-Cockpit träumen, wenn sie ihren 400 Meter langen Chopper so richtig in die Kurve legen. Wenn der Zug den Bahnhof Saalfeld verlässt, denkst du noch: „Das ist also Thüringen, das sprichwörtliche grüne Herz Deutschlands.“ Zehn Minuten später kämpfst du um dein Leben und versuchst verzweifelt, jegliche Assoziation zur Farbe grün zu vermeiden. Joyce schrieb von der rotzgrünen See („the snotgreen sea“), aber er starb lange vor Erfindung der Neigetechnik. Acht Grad Neigung in einem Zug, das ist, wie wenn du bei Windstärke zehn die Irische See durchpflügst, hier die kotzgrüne thüringische See. Grün ist Irlands Flagge, grün ist Werder Bremen, grün ist die Hoffnung. Grün ist auch das Gesicht deines Gegenübers, froschgrün, grasgrün, leichengrün. Die Alten wussten wohl, warum sie von rollenden Wogen sprachen. Auch der Zug rollt, und vor den Fenstern wogt die thüringische Mittelgebirgslandschaft auf und nieder. Und jedes Auf drückt deinen Magen zusammen, und jedes Ab erzeugt dieses unbarmherzige Ziehen, so fahl und flau und sterbenselend macht es dich, so weich in den Knien und wehrlos. Grün wie Eichen, Kiefern, Fichten, grün wie Bratkartoffeln mit Spiegelei und Spinat, die du unvorsichtigerweise vor Antritt der Fahrt zu dir genommen hast. Damals noch schmackhafte Speise, jetzt ein amorphes, halb verdautes Monster, das in seinem Käfig rumort und rauswill, raus ins Freie …

Warum, fragst du dich, brauchen wir eine Neigetechnik? Warum müssen wir unser armseliges Leben auf einer Zugtoilette aushauchen, die wir aus diesem Grund leider nicht so hinterlassen können, wie wir sie gern vorzufinden wünschen? Die Bahn AG klärt uns auf: „Dadurch können Kurven mit bis zu 30 % höherer Geschwindigkeit durchfahren werden.“

Dein intaktes Resthirn, das für basale Lebensfunktionen und die vier Grundrechenarten zuständig ist, sagt dir, Reisender, dass sich dadurch auf der Strecke zwischen Leipzig und Nürnberg eine Zeitersparnis von sieben Minuten ergibt. Für sieben Minuten werden die Insassen eines ganzen Zuges ihrer Menschenwürde beraubt und in die Knie gezwungen. Was tut man in diesen sieben Minuten? Kann man in sieben Minuten sein Testament machen? Versprechen, ein anderer Mensch zu werden? Sich vornehmen, nur noch über „Hintenrum (West)“ zu fahren?

Draußen gleitet Probstzella vorbei, der alte Grenzbahnhof, damals, als es Zone und Interzonenzüge noch gab. „Selbstverständlich bleiben Sicherheit und Komfort für die Fahrgäste gewährleistet“, beendet die Bahn ihre Erläuterungen mit einer faustdicken Lüge. Um dich herum sitzen gut gelaunte Matrosen der deutschen Bundesmarine, die hier im ICE ihre Grundausbildung absolvieren, ehe sie auf der „Gorch Fock“ das Kap der Guten Hoffnung umsegeln dürfen. Auch den Zugbegleitern und Bistromitarbeitern geht es glänzend. Sie werden in einer ausrangierten Nasa-Zentrifuge in Bamberg monatelang für ihren Einsatz in Zügen mit Neigetechnik gedrillt. Neigetechnik. Kein Kandidat für das Wort des Jahres. Neigetechnik wohl auch deshalb, weil du in Lichtenfels deinen Mageninhalt bis zur bitteren Neige von dir gibst, die grüne Galle Deutschlands aus dir hervorbricht, als gäbe es kein Morgen. Wenn du dann auf wackligen Knien zu deinem Platz zurückgelangt bist und dir mit einer Papierserviette noch einmal diskret den Mund abtupfst, merkst du, dass der Zug sieben Minuten Verspätung hat. Die Rückfahrt verläuft im Prinzip genauso, nur musst du da in Saalfeld kotzen.

ROB ALEF