Vom „Traktor“ zum Professor im Untergrund

Italiens Obermafioso Bernardo Provenzano, seit Jahrzehnten per Haftbefehl gesucht, entwischt erneut der Polizei

Irgendwann zwischen Weihnachten und Neujahr rückte das Fahndungskommando aus. Der Einsatzort: eine Wohnung im Herzen Palermos, in der Nähe des Justizpalasts. Das Objekt des Zugriffs: Bernardo Provenzano, Boss der Bosse von Cosa Nostra. Was folgte, war Routine: Wieder war der Spitzenmafioso nicht da, obwohl ein angeblicher „exakter“ Tipp vorlag, obwohl auch die Häscher aus Rom angereist waren und die Polizei von Palermo außen vor gelassen hatten.

Das Misstrauen kommt nicht von ungefähr, denn Provenzano verdankt es wohl nicht nur eigenem Talent, wenn er trotz ungezählter Haftbefehle seit über 40 Jahren ungestört auf Sizilien lebt. Seine kriminelle Karriere begann er in den 50er-Jahren, in Corleone. Brutal schossen er und sein Kumpel Totò Riina die alte Mafia im Ort weg; 1963 musste Provenzano untertauchen. Die Polizei besitzt von ihm nur ein Foto von 1959, dazu die Beschreibung „Statur: kräftig, Augen: hellbraun, Haare: dunkelbraun“.

Sein Spitzname war bekannt: „u tratturi“, der Traktor, denn wo Provenzano vorbeikam, wuchs kein Gras mehr. Das klingt nach tumbem Brutalo – der Boss hat nicht mal die zweite Volksschulklasse abgeschlossen. Und äußerst brutal räumte das Team Riina/Provenzano Anfang der 80er mit den „alten“ Mafia-Clans auf. Tausende Tote kostete der Siegeszug der Corleonesi.

Brutal ging auch die Cosa Nostra unter ihrem damaligen Chef Riina gegen die Staatsmacht und alle anderen Gegner vor: Politiker, Richter, Staatsanwälte, ja selbst Priester fielen ihren Anschlägen zum Opfer. Der Gipfel der Eskalation war 1992/93 erreicht. Erst wurden die Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino samt Begleitschutz in die Luft gejagt, dann legte die Mafia Bomben in mehreren italienischen Großstädten. Der Staat verhaftete hunderte Mafiosi – 1993 auch Totò Riina.

Damit war Provenzanos Stunde gekommen. Er war nun der unangefochtene Boss – und er verordnete der Cosa Nostra einen radikalen Strategiewechsel. „Abtauchen“ hieß seine Parole: Statt durch spektakuläre Verbrechen auf sich aufmerksam zu machen, solle die Mafia sich im Stillen um ihre Kerngeschäfte kümmern – Schutzgelderpressung und die flächendeckende Kontrolle aller öffentlichen Aufträge auf Sizilien.

Die Rechnung ging auf – die Cosa Nostra hat Sizilien fest im Griff. Provenzano lenkt die Geschäfte mit Briefchen aus seinen Verstecken. Auch mit der Familie korrespondiert er, kümmert sich um die Studienerfolge seiner beiden Söhne, bestellt bei seiner Frau schon mal warme Skihosen. Heute nennen ihn die Mafiosi „Buchhalter“, ja „Professor“, weil er sich um jedes Detail in der Großholding Mafia kümmert.

Alle paar Jahre ist ihm die Polizei auf den Fersen; 1995 hatte sie ihn fast, 2001 wieder. Doch entweder gaben die Polizeichefs nicht die Erlaubnis zum Zugriff, oder sie begnügten sich mit der Verhaftung einiger Provenzano-Zuträger. „Die wollen den nicht verhaften“, kommentierte ein Mafioso. MICHAEL BRAUN