Rot-Grün vor neuem Weltrekord

126 Tage sollen die Abgeordneten die Luft anhalten. Erst nach zwei Wahlen darf über die Zukunft von Wehrpflicht und Sozialstaat diskutiert werden

AUS LEIPZIG UND WÖRLITZ ULRIKE WINKELMANN

Ab heute werden die Abgeordneten der rot-grünen Koalition einen neuen Weltrekord im Luftanhalten aufstellen. Noch 126 Tage bis zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen: Bis dahin rührt sich keiner. Nichts und niemand bei SPD und Grünen soll im Strom der Erfolgsmeldungen und der Zuversicht, der die Bundesregierung ins neue Jahr getragen hat, quer treiben: Maut – fließt, Hartz IV – läuft, Flut-Management – hoch gelobt. Umfragewerte – steigen.

Die Schleswig-Holstein-Wahl am 20. Februar meint Rot-Grün schon so gut wie gewonnen zu haben. Wenn aber auch NRW am 22. Mai zu halten ist, wird sich die Union über CDU-Chefin Angela Merkel hermachen. Auf diese Weise könnte 2005 für Rot-Grün ein sonniges Jahr – und der Weg ins Bundestagswahljahr 2006 geebnet werden. Aber nur, wohlgemerkt, wenn alle stillhalten.

Doch sah es auf den Klausursitzungen nicht so aus, als wolle jemand den Aufstand gegen dieses allseits unterstellte Regierungskalkül wagen. Die SPD-Fraktion sammelte sich im Leipziger Renaissance Hotel zu dem einzigen Zweck, sich von Regierungs- und Fraktionschefs erklären zu lassen, was für alle das Beste sei.

Im ersten Halbjahr wird nichts angefasst, was wehtut, sondern nur, was nach demokratischem Fortschritt aussieht: Das Antidiskriminierungsgesetz und das Informationsfreiheitsgesetz „werden wir in Bewegung bringen“, wie es SPD-Chef Franz Müntefering später formulierte. Mit dem Ausbildungspakt „werden wir früher anfangen als letztes Jahr“. 500.000 Ausbildungs- und Arbeitslose bis zu 25 Jahren sollen angeschrieben werden und ein Angebot erhalten.

Hinzu kommen solche parlamentarischen Sternstunden wie die Ratifizierung der EU-Verfassung sowie die Diskussion über ein Gesetz zur direkten Demokratie, sprich Volksabstimmungen. Mit dem letzten Punkt wird Rot-Grün selbstredend an der Opposition scheitern, aber dann kann man die eben wieder als Modernisierungsverhinderer hinstellen.

Erst im zweiten Halbjahr soll diskutiert werden, was zumindest wehtun könnte: Die Zukunft der Wehrpflicht soll das große Thema auf dem SPD-Parteitag im November in Karlsruhe werden. Mit der Auswertung der Hartz IV genannten Arbeitsmarktreform lassen sich vielleicht kleine Änderungen in Aussicht stellen – etwa die Angleichung der Arbeitslosengeld-II-Sätze in Ost und West. Und auch die Pflegeversicherung, die vom Kanzler vor einem Jahr schlicht herausgekegelt wurde, weil 2004 ohnehin anstrengend genug war, rückt dann wieder ins Programm – voraussichtlich als Teil der Bürgerversicherung.

Selbst geübte Stänkerer mochten in der Klausurwoche nicht allzu laut darauf hinweisen, dass zum Beispiel die Arbeitslosigkeit weiterhin das Hauptproblem bleibt. „Hat doch gar keinen Zweck, hier gegen diese Euphorie anzurennen“, grantelte der Fraktionslinke Ottmar Schreiner. Der im „Netzwerk“ zusammengeschlossene Fraktionsnachwuchs soll während der Klausur vor allem dadurch aufgefallen sein, dass der Netzwerker Sascha Raabe den Kanzler lobte.

Netzwerker Hubertus Heil bemerkte immerhin am Ende: „Ich hätte mir eine Debatte darüber gewünscht, welche Konsequenzen wir aus dem Armutsbericht ziehen wollen.“ Dieser freilich wird offiziell noch in der Schublade des Sozialministeriums gehalten. Seine Daten aber kursieren längst: Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich auch unter Rot-Grün weiter geöffnet.

Was aber auch den kleineren Koalitionspartner nicht besonders kümmert. Die Grünen feierten auf ihrer Klausurtagung im sachsen-anhaltischen Gartenörtchen Wörlitz vor allem ihren 25. Geburtstag und ihren neuen Arbeitsschwerpunkt „Weg vom Öl“. Da die Grünen sich im Hinblick auf die Bundestagswahl wieder stärker als Ökopartei profilieren wollen, gab es in diesem Zusammenhang auch die einzige erkennbare Koalitionsverstimmung.

Doch binnen Stunden war auch die in der abschließenden gemeinsamen rot-grünen Sitzung in Wörtlitz ausgeräumt: Müntefering erklärte, für die Forderung nach einer Steuer auf Flugbenzin sehe er „im europäischen Rahmen keine Realisierung“. Und für einen halben Mehrwertsteuersatz aufs Bahnfahren gebe es „angesichts der Haushaltslage keine Chance in diesem Jahr“. Die Grünen gaben sich damit zufrieden, dass sich eine gemeinsame Arbeitsgruppe zunächst um ökologische Altbausanierungen kümmern soll.

Glücklich eine Koalition, deren Hauptproblem ist, was sie der Bevölkerung über Nebenjobs von Abgeordneten sagen will.