Verquere Welt

Lauschangriff auf Tausendundeins: Im Hebbel am Ufer zeigt die Aktionsgruppe CHEAP „Eine Nacht weniger“

Es beginnt mit dem Standbild einer Reise in den Süden. Alte Schrankkoffer, bunte Kleider, Urlaubsstimmung. Eine schöne Erholung könnte es werden. Aber mit dem Bild löst sich die heile Welt auf. Der Bus hat eine Panne, die Zwangsstation heißt Anatolien, aber vielleicht ist die redselige Frau im grünen Kleid, die das erzählt, dem orientalischen Märchenerzählen verfallen.

Von dieser Szene ist es in dem neuen Abend der Gruppe CHEAP nur ein Katzensprung bis in eine Pianobar, ein Haremsbad oder in eine Operngarderobe. Denn Reisen steht in erster Linie für gedankliche Beweglichkeit und Identität stellt sich aus dem jeweiligen Standort her. Kulturell bin ich kein Italiener, sondern Araber, hat der Regisseur Carmelo Bene, dem dieser Abend gewidmet ist, mal gesagt. Auf den Einwand, dass Süditalien arabisch sei, soll er geantwortet haben: Dann bin ich doch Italiener.

Mit ähnlichem Wille zur Uneindeutigkeit stehen die sechs CHEAP-Mitglieder auf der Bühne: Travestiten, Transvestiten, Männer und Frauen. Auch die Genres mischen sich: Chansons, Revue und kleine Schauspieleinlagen. Szenen aus „Ein Türke in Italien“ werden nachgespielt, jener Oper, die Rossini direkt nach „Die Italienerin in Algier“ schrieb. Oder man hockt gemeinsam auf dem Boden und teilt sich auf einer rot karierten Tischdecke Pizza vom Bringservice.

So familiär sind die Mitglieder aufeinander eingespielt. Im Podewil präsentierten sie eine Zeit lang im Wochenrhythmus den „CHEAP Klub“ oder luden zu „CHEAP Jewelry“ die schwarze Dragqueen Vaginal Davis mit auf die Bühne; diesmal ist Zazie de Paris als Gast dabei. An der Oberfläche wird der Abend vom Ton einer 60er-Jahre-Retroshow getragen. Und darin steckt dann das wirklich Interessante: in diese Zeit zurückzureisen und all die Angriffslust und Vogueisierung der Dragqueens, die damals entstand, oder die aggressive wie traurige Transgressionen queerer Existenz zu streichen.

Nichts, was Zweigeschlechtlichkeit suggerieren könnte, kommt zur Sprache. Und dennoch entsteht auf der Bühne eine verquere Welt mit Kraft zur Selbstbehauptung, die sich dem Wunsch nach Normalität nicht ergibt. Notfalls mit orientalischer Märchenkraft und imaginären Reisen. SIMONE KAEMPF

18. bis 20. 1., 20 Uhr, HAU 3, Tempelhofer Ufer 10, Kreuzberg