Village Voice
: Sehnsüchtiger Schrei

V. A.: „Full Body Workout Volume 1“ (Get Physical Music/ Intergroove)

Das House-Label Get Physical wurde 2002 durch das DJ- und Produzenten-Duo M.A.N.D.Y., den Frankfurter DJ T. und das Produzenten und Engineer-Trio Booka Shade gegründet. Get Physical ist eine energetische und professionelle Einheit, die alle Aspekte von Produktion und Präsentation elektronischer Tanzmusik abdeckt. Die Biografien der Mitglieder der Posse wurzeln tief in der Techno-Geschichte: DJ T. gründete 1989 die Groove, M.A.N.D.Y und Booka Shade veröffentlichten schon Anfang der Neunziger auf dem belgischen Ravelabel R&S. Get Physical stiegen zunächst mit einem gewissen Pragmatismus und Eklektizismus auf den Dancefloor ein – und etablierten sich sehr schnell in dessen Zentrum. Und so sind Get Physical heute vielleicht das am professionellsten arbeitende und am besten verkaufende Berliner Elektroniklabel jenseits von Studio K7 oder Low Spirit. Die ersten Releases waren gleichzeitig von einer gewissen Kompatibilität und von einer gesteigerten Effizienz gekennzeichnet: Was die einen als übermäßige Slickness und Gefälligkeit empfanden, schätzten die anderen als tiefes Bewusstsein um die Notwendigkeiten des House-Floors. Andere deutsche Houselabels wie etwa Pokerflat, Playhouse, Stir15 oder United States of Mars wollen sehr spezifische, sophisticatete Differenzen im House-Kosmos setzen, bemühen sich um einen bestimmten Trademark-Sound und grenzen sich oft durch bestimmte Idiosynkrasien von House als mittelständigen Ausgehritual ab. Insofern haben Get Physical einen Gegenentwurf zu House als Distinktionsmaschine entwickelt: sie entwerfen House nicht als Exegese der Black-Music-Geschichte, sondern als universale Feiermusik. Die meisten Releases sind von Booka Shade engineert bzw. coproduziert. Was die Beats angeht, haben sie einen besonderen, strahlenden Punch entwickelt. Das wirkt manchmal so, als würde zwischen jedem neuem Drum ganz tief Atem geholt. Auf ihrem gerade erschienenen eigenen Albun „Memento“ – übrigens eine der herausragendsten Veröffentlichungen des Labels bisher – gelingt es ihnen als einem der wenigen Acts der Szene, nicht mehr bloß innerhalb von House zu operieren, sondern unwahrscheinliche Verbindungen zu ganz anderen, entlegenen Musiken herzustellen. Auf dem Compilation-Album „Full Body Workout Volume 1“ erscheinen nun einige neue Künstler: Das Pariser Duo Catwash, der schwedische Produzent Martinez und die Argentinier Silver City. In der ewigen Glücksmusik, die House nun einmal ist, tauchen hier ambivalentere Erfahrungen auf: Bei Catwash werden die Grooves angriffslustiger und schroffer und ab und zu fräsen sich Acid-Spuren in die eleganten Arrangements. Martinez’ „Mind Games“ ist dagegen überhaupt nicht gesättigt und schlenkernd so wie viele House-Nummern, sondern das Stück ist eher auf eine gewisse Linearität komprimiert, um einen schrillen Impact zu erzeugen. Bei Starsky & Hutschs Remix von Chelonis R. Jones’ „I don’t know“ balancieren die Grooves auf einer Klinge – und drohen in einem sehnsüchtigen Schrei abzustürzen. Alexis Waltz