Inszenierungen der Multitude

Die Ästhetik der Gegenöffentlichkeit: Die Ausstellung „Disobedience“ im Kunstraum Kreuzberg und der play_gallery führt in Geschichte und Gegenwart sozialer Bewegungen ein – mit Flugblättern, Dokumentationen und Videoarbeiten

Die Multitude ist im Kunstbetrieb angekommen. In „Disobedience“ wird sie ausgestellt, per Videoscreens und auf Monitoren. „Disobedience“ ist ein mediales Archiv des zivilen Ungehorsams, ein fortlaufendes Projekt in Kooperation mit der transmediale 05, das derzeit im Kunstraum Kreuzberg und in der play_gallery Station macht. Marco Scotini, der Initiator, hat politische und künstlerische Gruppen und Einzelpersonen eingeladen, ihr Material und das anderer zu zeigen; als Kuratoren haben Oliver Ressler, Video Alterazioni und Jota Castro verschiedene Sektionen betreut.

Die einzelnen Räume stellen interne Zusammenhänge her, sind aber eigenständige Thematisierungen der Arbeit von zum Beispiel „indymedia“ oder der sozialen Bewegung in Russland. Als Archive politischer Kämpfe vernetzen sie sich, um das Verhältnis von Kunst und Politik neu zu bestimmen, den Künstler als Teil der von Toni Negri und Michael Hardt beschriebenen Multitude zu begreifen. Forderte Walter Benjamin 1936 die „Politisierung des Kunst“ gegen die „Ästhetisierung des Politischen“, so wird diese Forderung in „Disobedience“ umgekehrt: Hier wird das Politische als Gegenöffentlichkeit ästhetisiert.

Vor diesem Hintergrund macht es wenig Sinn, die Ausstellung kunstkritisch einzuordnen. Ein übergroßer Teil des Präsentierten verhält sich dokumentarisch zu seinem Gegenstand. So wird zum Beispiel bei indymedia oder KanalB versucht, die gesellschaftliche Verpflichtung auf Massenmedialität in Fernseh- und Videoformat neu zu bestimmen und so für die Kritik nutzbar zu machen.

„Disobedience“ funktioniert als visuelle Einführung in eine Geschichte, die bis in die Gegenwart reicht: Bildungspolitik der sozialen Bewegung. Im Kunstraum Kreuzberg werden die Spuren der Vergangenheit nachgezeichnet, um zu zeigen, dass auch die Geschichte weiterhin up to date ist. Radio Alice hat hier im Eingangsraum eine Zeitleiste der italienischen Verhältnisse 1977 zusammengesetzt. Der Operaismus wird in Dokumenten, Interviews, Flugblättern und Zeitungsausschnitten vorgestellt. Im Katalog, der mit seinem Schnibbellayout die 1980er zurückholt, fällt regelmäßig das Stichwort „Post-Fordismus“. Damit ist der Rahmen der Ausstellung klar umgrenzt: Das Ende der Arbeiterklasse wird ausgerufen, als beginnender Siegeszug der neuen sozialen Bewegung, als Befreiung des Widerstands von den Klassen.

Dabei setzen sich die Impulse von einst in den Aktivismen der Gegenwart fort. Oliver Ressler hat für die von ihm kuratierte Abteilung „Protesting Capitalist Globalization“ Bilder von aktuellen Auseinandersetzungen aus der halben Welt zusammengetragen und mit den Medien kultureller Hegemonie wiederholt: Video im TV-Format. Aufgereihte Fernseher, Sitzgelegenheiten und Kopfhörer laden zum Lernen ein. Gerahmt und ergänzt durch Dokumente, durch Flugblätter, Broschüren und an die Wand gemalte Slogans, werden die insgesamt elf Räume beider Galerien mit einer schwer überschaubaren Zahl von Monitoren besetzt. Nur wenige der fast 40 ausgestellten Positionen verweigern dieses Format. So setzt das Critical Art Ensemble in der play_gallery das Anwachsen der eigenen Recherche in Szene: ein Computer, neben dem ein mit Setzlingen aufgefülltes Regal eine Idee des realen Materials für das „Molecular Invasion“-Projekt gibt.

Bei Harun Farocki, Hito Steyerl und Margit Czenki/Park Fiction werden Kunst und Politik indes gleichwertig gewichtet. Letztere Arbeit wird im Bethanien auf Wandgröße projiziert und verdeutlicht in der Verschiebung von Ton und Bildspur, der Collagierung von Interviews, Erklärungen und Zeichnungen, dass auch im filmischen Medium selbst Differenzen zum Fernsehformat herstellbar sind. Manche dieser Bilder setzen sich durch ihre stetige Wiederholung beim Betrachter fest, so werden Einzelbeispiele zu beispielhaften Einzelheiten.

Die Ausstellung „Disobience“ ist der Versuch, den Mechanismus der Massenmedien als Medium der Kritik zu wiederholen. Und auch wenn fast nur Videoarbeiten gezeigt werden, ist „Disobedience“ keine Videoausstellung, sondern eine visuelle Bibliothek einer Bewegung, die sich hier selbst inszeniert; ein Archiv einer Multitude, die mit vielen Stimmen spricht, die den Ausstellungsraum teilweise bis über die Lärmgrenze hinaus beschallt und durcheinander redet. Leider reden nur wenige miteinander.

KERSTIN STAKEMEIER

Bis 27. 2., Di.–So. 12–19 Uhr, Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Mariannenplatz 2, und play_gallery, Hannoversche Straße 1.