Neue Ära mit doppeltem Defizit

Bei der Weltmeisterschaft in Tunesien versuchen ab morgen die deutschen Handballer nach dem Abschied ihrer goldenen Generation, die zuletzt olympisches Silber gewann, mit neu formiertem Team den Anschluss an die Weltspitze zu bewahren

AUS BERLIN FRANK KETTERER

Die bittere Erkenntnis kam kurz vor Mitternacht und im Oktober. Ein Fest hatten sie gefeiert an jenem Abend, und obwohl es rauschend und bunt und wunderschön war, machte sich doch auch eine satte Portion Wehmut in der Kieler Ostseehalle breit, und das ein oder andere Auge glänzte verdächtig feucht, nicht nur bei Heiner Brand, dem Bundestrainer. Schließlich galt es Abschied zu nehmen an diesem Abend, weil Christian Schwarzer, Volker Zerbe, Stefan Kretzschmar, Klaus-Dieter Petersen und Mark Dragunski ihre Karrieren in der deutschen Nationalmannschaft nach Olympia für beendet erklärt hatten. Die fünf zählten zum Stamm einer deutschen Handball-Mannschaft, die mit den Jahren zu solch immenser Größe und Güte herangewachsen war, dass kein Finale eines großen Turniers mehr ohne sie über die Bühne ging. Europameister ist diese Mannschaft geworden und Vizeweltmeister, und auch bei Olympia in Athen fügte sie ihrer Erfolgsgeschichte ein wunderbares Kapitel an, auch wenn es am Ende „nur“ ein silbernes wurde.

Aber das ist letztendlich egal, denn es war trotzdem eine große Mannschaft, die das Land mit einer goldenen Handball-Ära beschenkt hatte. Und nun, da die Helden an diesem Oktoberabend in Kiel ein letztes Mal miteinander gezaubert und dabei ihre eigene Ära offiziell beendet hatten, kam zunächst die Wehmut und dann jene bittere Erkenntnis, dass nichts mehr so sein wird, wie es gerade eben noch war. „Wir sind keine Favoriten mehr. Wir sind wieder Außenseiter“, packte Henning Fritz diese in Worte – und dabei sah der Torhüter aus, als könne er das selbst nicht glauben.

Aber es ist wahr, unumstößlich, und erleben wird man das bei der Handball-Weltmeisterschaft, die am morgigen Sonntag in Tunesien mit dem Spiel gegen Ägypten (17 Uhr, ZDF) beginnt. „Ein Platz unter den ersten acht wäre schon ein Erfolg“, sagt Horst Bredemeier, der Vizepräsident des Deutschen Handball-Bundes (DHB), und stapelt damit keineswegs tief. Zumal die deutsche Mannschaft bei dem Turnier in Afrika auch noch auf die verbliebenen, derzeit allerdings verletzten Olympiahelden Daniel Stephan, Markus Baur, Henning Fritz und Jan-Olaf Himmel verzichten muss. Zusammen mit den Zurückgetretenen ließe sich allein daraus ein Stamm bilden, der locker um den Titel mitspielen könnte.

Von denen, die an ihrer statt nun die Reise antreten, kann man das nicht behaupten. „Es ist unwahrscheinlich, dass die Deutschen vorne spielen. Das wird die Mannschaft von Heiner Brand leidvoll erfahren müssen“, prophezeit Ägyptens Trainer Jörn-Uwe Lommel. Und auch Heiner Brand, der Architekt der goldenen Ära, dämpft vorsorglich die Erwartungen: „Wir dürfen nicht den Fehler machen, diese Mannschaft mit dem Erfolgsteam der letzten Jahre zu vergleichen.“

Letztendlich muss der Bundestrainer ein doppeltes Defizit zu kompensieren versuchen: das Minus an individueller Klasse und jenes im Mannschaftsspiel. Männer wie Schwarzer, Kretzschmar, Zerbe oder Stephan zählten auf ihren Positionen zu den Besten der Welt. Spieler wie Yves Grafenhorst, Holger Glandorf, Christian Schöne oder Sebastian Preiss, die nun die Lücken schließen sollen, sind trotz ihrer jungen Jahre zwar allesamt gestandene Bundesligaspieler, mehr aber (noch) nicht. Wie sollten sie auch? Und selbst jene, die schon länger mit von der Nationalmannschaftspartie sind, müssen sich nun auf andere Art beweisen. Spielern wie Florian Kehrmann oder Frank von Behren kam in der Hierarchie bisher eine eher untergeordnete Rolle zu, nun sind sie die Etablierten, deren Aufgabe es ist, die junge Mannschaft zu führen und ihr Rückhalt zu geben in brenzligen Situationen. Auch Christian Zeitz und Pascal Hens haben in Tunesien keine „älteren Hasen“ mehr an ihrer Seite, an denen sie sich im Bedarfsfall aufrichten können – sondern müssen sich nun selbst um ihre Mitspieler kümmern.

Damit das nicht in Vergessenheit gerät: Auch Schwarzer und seine Heldenkollegen waren mal jung und unerfahren – und nicht immer Weltklasse, sondern sind bisweilen bei Turnieren ausgeschieden, noch bevor das Halbfinale in Reichweite war. „Wir haben Jahre dafür gebraucht“, erinnert sich Christian Schwarzer, „die neue Mannschaft hatte zwei, drei Wochen Zeit.“ Genau genommen: zehn Trainingseinheiten und sechs Freundschaftsspiele, von denen vier gewonnen wurden (das letzte am Donnerstagabend in Berlin ohne großen Glanz gegen Tschechien mit 29:27) und zwei verloren (gegen Slowenien). Und selbst das Training ist nicht mehr ganz so wie früher, wie Florian Kehrmann beobachtet hat. „Den Jungen erklärt Heiner Brand jede Kleinigkeit, die bei der alten Mannschaft als selbstverständlich vorausgesetzt werden konnte“, sagt der Rechtsaußen.

All die Jahre wird freilich selbst Brand in drei Wochen nicht aufholen können. Wie weit die Mannschaft tatsächlich schon ist, kann sie erstmals am Sonntag gegen Afrikameister Ägypten zeigen. Sollte der Turnierstart gelingen, wäre die Qualifikation für die Hauptrunde mit zwei Pflichtsiegen in den folgenden Spielen gegen Brasilien und Katar bereits gebucht, und die deutsche Mannschaft könnte ihre beiden letzten Vorrundenspiele gegen Norwegen und Serbien-Montenegro ohne allzu großen Nervenaufwand absolvieren, bevor in der Hauptrunde möglicherweise Kroatien, Spanien und Schweden drohen. Gegen diese Gegner verloren bisweilen selbst Christian Schwarzer und seine Kollegen aus der goldenen Ära.