Rückwärts in den Abgrund

Die Elfenbeinküste brennt – aber die politischen Akteure des Landes sind ungerührt. Gemeinsam zerstören sie eine Nation, die sie immer noch für ein Vorbild für Afrika halten

Wenn wir uns weigern, zusammenzuleben, werden wir einzeln sterben, jeder in seinem Clan

Die Ivorer haben für ihr Land, die Elfenbeinküste, viele Namen. „Land der Brüderlichkeit und Gastfreundschaft“, „Neues Jerusalem“, „Gesegnetes Land Gottes“, „Lokomotive der Region“ – die Propaganda hat so gut funktioniert, dass die Selbstglorifizierung die traurige Wirklichkeit in den Hintergrund drängt.

Massengräber? Vergewaltigungen durch die Polizei? Massaker von Rebellen? Blutige Niederschlagung von Demonstrationen? „Halleluja“, lautet die kollektive Antwort auf all diese Vorfälle der vergangenen fünf Jahre. „Die Elfenbeinküste ist wahrlich ein gesegnetes Land. Wir haben ja noch nicht zwei oder drei oder vier Millionen Tote wie Kongo oder Ruanda.“ Man könnte es für einen Witz halten, aber so redet man in Abidjan, in einfachen Bars und in gehobenen Salons.

Die internationale Gemeinschaft hat das Ausmaß der ivorischen Tragödie begriffen. Vermittlungsversuche, Friedenskonferenzen – es mangelt seit dem Beginn des Bürgerkrieges am 19. September 2002 nicht an Versuchen, die Ivorer dazu zu veranlassen, die Waffen niederzulegen und miteinander zu reden und zu leben. Trotzdem scheint es, als wollten die ivorischen Eliten ihr gemeinsames Haus lieber niederbrennen, als es zu teilen. Es ist ein kollektiver nationaler Selbstmord.

Das Chaos, in das die politischen Akteure des Landes die Elfenbeinküste gestürzt haben, ist eine direkte Folge des Scheiterns der Demokratisierung. Kein Wunder, dass die geltenden Friedensabkommen, deren therapeutischer Wert für die ivorische Gesellschaft in der Betonung gemeinsamer staatsbürgerlicher Werte liegt, bis heute nur eine virtuelle Lösung der Krise darstellen. Sie sind Fremdkörper, die bei der ersten Gelegenheit abgestoßen werden. Wenn man den Zerfall der Elfenbeinküste nicht will, muss eine Bürgerdebatte zwischen allen Kräften des Landes stattfinden, nicht nur zwischen den Kriegsparteien oder den politischen Parteien.

Bisher hat es das nicht gegeben, und anstelle einer Demokratisierung und der Pluralisierung der politischen Debattenkultur, wie sie in den 90er-Jahren bei der Einführung des Mehrparteiensystems erhofft wurde, hat lediglich die Intoleranz ihr Gesicht gewechselt: schlimmer noch, eine „Demokratisierung“ der Gewalt hat die Stelle des staatlichen Gewaltmonopols eingenommen.

Als 1990 die Demokratisierung der Elfenbeinküste begann, waren die Studenten Speerspitze des Protests. Auf die staatliche Gewalt antworteten sie mit Gegengewalt, Vandalismus und sogar Mord. Die radikale Studentenvereinigung Fesci trat an die Stelle des regierungstreuen Verbandes, wurde von Oppositionspolitikern instrumentalisiert, und jeder, der nicht der Fesci beitrat, galt als Spion oder als Feind der Freiheit.

Heute, zehn Jahre später, haben diese Studentenführer ihre Methoden der gesamten Nation aufgezwungen: Im Südteil des Landes haben wir die „Jungen Patrioten“, im Nordteil die Rebellen, beide geführt von ehemals rivalisierenden Fesci-Führern, Charles Blé Goudé und Guillaume Soro. So hat die politische Klasse, indem sie die Jugend instrumentalisierte, den Weg zum Totalitarismus frei gemacht.

In der Elfenbeinküste kommt die Macht heute allein aus den Gewehrläufen. Der Militärputsch von Weihnachten 1999, bei dem Jugend und Militär gemeinsam das alte Regime hinwegfegten, stellte nicht, wie man damals dachte, einen Fortschritt in Richtung Demokratie dar, sondern legitimierte den bewaffneten Kampf. Dass der heutige Präsident Laurent Gbagbo seinen Wahlsieg im Oktober 2000 mit dem Druck der Straße und der Waffen durchsetzen musste, festigte diesen Irrweg noch.

Die politische Klasse instrumentalisierte die Jugend und machte so den Weg zum Totalitarismus frei

Heute haben Straße und Armee gemeinsam die Macht. Ein Richter fällt ein missliebiges Urteil? Demonstranten marschieren im Justizpalast auf. Justizangestellte sind mit ihren Arbeitsbedingungen unzufrieden? Sie nehmen ihre Chefs gefangen. Die Republik ist in Gefahr? Die Jugend geht auf die Straße, um die Ordnung wiederherzustellen. Die Straße hält die Republik als Geisel. Die Straße erscheint als Ersatz für ein gescheitertes politisches System.

Zwei Jahre nach dem Friedensabkommen von Marcoussis, das ein Ende des Bürgerkrieges bringen sollte, ist der Frieden nicht zurückgekehrt. Die Akteure der Krise machen sich gegenseitig dafür verantwortlich. Die internationale Gemeinschaft macht aber den Frieden ausschließlich von der Umsetzung von Marcoussis abhängig, trotz der objektiven Schwierigkeiten seiner Umsetzung.

Es gibt zwei Hauptprobleme mit Marcoussis. Das eine ist die Entwaffnung und Demobilisierung aller bewaffneten Gruppen und neu rekrutierten Soldaten des Landes. Das zweite ist eine Verfassungsreform, vor allem des Artikels 35, der nur Politiker lupenreiner ivorischer Abstammung zu Präsidentschaftswahlen zulässt.

Zu dieser zweiten Reform gibt es nicht einmal den Ansatz einer Lösung – wie kann da der Beginn einer Demobilisierung vor allem der Rebellen erwartet werden? Und die Reform des Artikels 35 ist in Marcoussis unklar geregelt. Die Regierung soll zur Neufassung des Artikels einen „Vorschlag“ machen, heißt es. Aber wem? Und wer entscheidet dann? Das Folgeabkommen von Accra vom Juli 2004 ist da nicht klarer: Es fordert den Präsidenten dazu auf, seine Macht zu nutzen, um die Reformen umzusetzen. Heißt das, er soll die Regierung zur Eile auffordern? Oder soll er die Notstandsbefugnisse der Verfassung nutzen? Das bleibt unklar, und so dauert die Polemik an. Die Regierung schlägt nun eine Volksabstimmung vor. Wie soll das gehen, in einem geteilten Land voller aktiver Bürgerkriegsarmeen?

Es rächt sich nun, dass das Abkommen von Marcoussis überstürzt abgeschlossen wurde, als unpräziser Kompromiss. Das Ergebnis ist eine Blockade, die nun seit zwei Jahren andauert, weil sie den Kriegsparteien nützt: Die Rebellen haben einen Grund, ihre Waffen nicht niederzulegen; der Präsidentenclan hat einen Grund, das Rebellengebiet zurückerobern zu wollen.

Und nichts wird sich ändern, wenn die Akteure der Krise es weiterhin nicht für nötig halten, etwas zu verändern. Das Wirtschaftsleben in den Rebellengebieten steht seit 2002 still, und im Südteil des Landes sind die so genannten Patrioten im Begriff, den Rest zu zerstören. Es ist, als wolle Präsident Gbagbo die totale Zerstörung der Elfenbeinküste, um den Rebellen, den Franzosen und der UNO zuvorzukommen.

Die Eliten der Elfenbeinküste brennen lieber das gemeinsame Haus nieder, als es zu teilen

Wenn wir uns weigern, zusammenzuleben, werden wir jeder einzeln sterben, jeder in seinem Clan, seinem Stamm, seiner politischen Familie. Voneinander gespalten und gegeneinander aufgehetzt, arbeiten wir gemeinsam am Verschwinden unserer Nation. Damit es nicht zum Schlimmsten kommt, müssen die Ivorer aus ihren Schützengräben heraus, um miteinander zu reden und einen Solidaritätspakt zu schließen. Die internationale Gemeinschaft sollte Bemühungen in diese Richtung unterstützen. EPIPHANE ZORO

aus dem Französischen

von Dominic Johnson