Sperrholz-Tragödien

BEHELFSBÜHNE Während des Umbaus improvisiert die Volksbühne mit antiken Stoffen und Trash-Konzepten von Jérôme Savary

Besonders erwähnenswert ist Prometheus in der Bodybuilder-Figur von Jorres Risse mit Goldhöschen

VON ESTHER SLEVOGT

Es hat sich inzwischen herumgesprochen, die Volksbühne wird umgebaut. Bert Neumann, der nimmermüde Raum- und Theatererfinder vom Rosa-Luxemburg-Platz, der vor ein paar Jahren schon mal einen fantastisch authentischen Nachbau des New Globe Theatre im Prater extra für einen Shakespeare-Zyklus hochzog, hat nun vor die geschlossene Volksbühne eine Open-Air-Ersatzspielstätte gesetzt: ein Amphitheater aus Sperrholz, das „Amfiteatr“ buchstabiert wird.

Aber das ist nicht der einzige Name, den es zu enträtseln gilt. Denn das Kind hat noch einen zweiten: „Agora“ nämlich. Und nur Freunde des Altgriechischen werden unter dem Begriff auf Anhieb die öffentliche Versammlungstätte verstehen, die im antiken Griechenland für kultische und andere öffentliche Zwecke verwendet wurde. Naheliegend also, dass hier Antikenprojekte stattfinden, kuratiert von Stefan Rosinki, dem designierten neuen Chefdramaturgen des Hauses.

Zuerst stieg dann letzte Woche Dimiter Gotscheff mit „Prometheus“ in den Ring, einem Textmassiv, das die Geschichte des Halbgottes verhandelt, der den Menschen das Feuer brachte und zur Strafe von Zeus an einen Felsen geschmiedet wurde. Bei Gotscheff und seinem Bühnenbildner Mark Lammert ist dieser Felsen ein gelber Fahnenmast, der in den Sand gestemmt wurde und an dem Max Hopp als Prometheus im zerfetzten roten Hemd pathetische Worte und wütende Blicke ins Publikum schleudert. Auch die anderen Beteiligten fallen nicht mit leisen Tönen auf. Frank Büttner als Schmied Hephaistos hadert dezibelstark mit seinem Schicksal. Hoch oben vom Volksbühnendach kreischt Io wild ihren Liebesschmerz heraus. Als Zuschauer hat man nur mäßig die Möglichkeit, hinter dem allseits herrschenden inbrünstigen Wahn einen tieferen Sinn zu erkennen, weshalb man einer Nachbarschaftsinitiative von Bewohnern am Rosa-Luxemburg-Platz nicht völlig verständnislos gegenübersteht. Sie hat nun Beschwerde gegen das laute Treiben des Hauses eingelegt. Die wahren Dramen müssen nicht notwendigerweise im Theater stattfinden.

Aber das können sie, wenn zum Beispiel bewährte Trash-Fachleute der alten Schule wie der legendäre französische Theatermacher Jérôme Savary die Sache mit der Antike mal in die Hand nehmen. Ihm ist die ganze oberlehrerhafte und auch kunstreligiös vernebelte Klassikersicht eines Dimiter Gotscheff völlig fremd. Womöglich hat der Franzose die Antike aus Asterix-Comics kennen und lieben gelernt. Savary servierte eine eigene Version von Aristophanes’ Komödie „Die Vögel“, in der die Unzulänglichkeit aller menschlichen Glücksvorstellungen verhandelt wird.

Wir Kinder des 20. Jahrhunderts wissen, was geschieht, wenn Leute zu fanatisch an die Verwirklichung ihrer Weltverbesserungskonzepte gehen, zu diesem Zweck Mauern, KZs oder Gulags errichten. Es ist also von Anfang an klar, dass den Spaßvögeln bei Savary nicht zu trauen ist. Schnell geraten wir in eine Comedy-Maschine hinein, in einen brachialen Komödien-Gulag, in dem man manchmal nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll.

Das fängt schon damit an, dass vorneweg in Togen gekleidete Damen Plätzchen in Penis-Form verteilen. Und auch im weiteren Verlauf wird kein niederer Gag übersprungen. Besonders muss man in diesem Kontext auf Prometheus hinweisen, der bei Savary in der Bodybuilder-Figur von Jorres Risse mit Goldhöschen und draufmodelliertem Musterpenis erscheint und den Vögeln Tipps zur gütlichen Einigung mit den Göttern gibt. Ein Prometheus, der so schöne Sätze sagt wie „Zeus hatte einen Nervenzusammenbruch“, weil er die Düfte von geopferten Hühnern und Hamburgern nun nicht mehr riechen kann – denn das war der Komplott, den die beiden Helden Bob und Bill alias Axel Wandtke und Christoph Letkowski geschmiedet haben: durch ein Vogelzwischenreich die Verbindung zwischen Menschen und Göttern zu kappen.

Ein Satz, bei dem wahrscheinlich auch Dimiter Gotscheff einen Nervenzusammenbruch bekommen hätte, der bei der Entfaltung des heiligen Ernstes seiner Kunstanstrengung die gleiche Verbissenheit an den Tag gelegt hat wie nun Savary bei der Arbeit am Komikkomplex. Wobei sich Savary während der Premiere von Reihe eins aus selbst in seine Inszenierung einmischte, dirigierte, mehr Tempo forderte und wirkte, als habe er sich selbst ins Stück geschrieben. Quasi als Pendant zu seinem depressiven Aristophanes, der sich permanent von dem Bühnengeschehen distanziert und am Ende zu erhängen versucht. Das alles ist furchbar peinlich, witzig, wahr. Auch ist einem grundsätzlich die hohle Einfalt des Goldpenisträgers Prometheus deutlich näher als das bedeutungsschwangere Skandieren pathetischer Müller-Sentenzen am klirrenden Fahnenmast bei Gotscheff. Ja, so sind die Zuschauer eben. Wir sind das Volk, und wehe, wenn wir darüber bestimmen dürfen, wie das Paradies aussehen soll.

■ „Vögel ohne Grenzen“ wieder am 30. Mai und 5. Juni; „Prometheus“ am 1. Juni und 4. Juni im Agora vor der Volksbühne