„Auf dem Weg zur barrierefreien Stadt“

GLEICHBERECHTIGUNG Seit zehn Jahren gilt in Berlin ein Gesetz, das die Rechte Behinderter sichern soll. Martin Marquard, der zuständige Landesbeauftragte, sieht viele Fortschritte – und einige Defizite

■ Der 64-Jährige ist seit neun Jahren Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderung. Er sitzt selbst im Rollstuhl.

taz: Herr Marquard, heute vor zehn Jahren ist das Landesgleichberechtigungsgesetz für Behinderte in Kraft getreten. Was hat es bewirkt?

Martin Marquard: Es war und ist ein wichtiges Signal: Berlin meint es wirklich ernst mit der Behindertenpolitik. Nicht nur der Senat für Soziales, alle Verwaltungen müssen auf die Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung hinwirken. So steht es im Gesetz.

Berlin war das erste Bundesland, das eine solche Regelung auf den Weg gebracht hat.

Damals gab es eine breite Ablehnungsfront in der Bundespolitik. Natürlich wurde in einzelnen Bereichen bereits gute Behindertenpolitik gemacht. Aber viele hatten kein Verständnis für ein solches Gesetz. Da war Berlin tatsächlich Vorreiter. Drei Jahre später wurde ein Bundesgesetz beschlossen, das sich bis in wörtliche Formulierungen an unseren Regelungen orientiert.

Was konkret hat das Gesetz verändert?

Es wurde zum Beispiel die Beteiligung Behinderter auf Landes- und Bezirksebene gesichert. Seitdem hat der Landesbeauftragte und der Landesbeirat für Menschen mit Behinderung völlig neue Kompetenzen. Es entstand ein breites Netz von Information und Mitwirkung. Die Stimme der Behinderten hört man ja noch gar nicht so lange. Früher haben immer andere für uns gesprochen und entschieden. Erst seit den 80er-Jahren organisieren sich behinderte Menschen selbst. Dass sich diese Entwicklung in einem Gesetz niederschlug, war ein großer Erfolg für die Bewegung.

Wie wirkte sich das auf den Alltag von Behinderten aus?

Wir haben zum Beispiel einige gute Fortschritte gemacht im Bereich Verkehr und Bauen. Berlin befindet sich auf dem Weg zu einer barrierefreien Stadt. Der Umbau des öffentlichen Nahverkehrs geht voran.

Ein großer Teil der U-Bahnhöfe hat nach wie vor keinen Aufzug.

Ja, das ist leider noch bei über der Hälfte der Fall. Es wird bestimmt noch 20 Jahre dauern, bis alle Bahnhöfe barrierefrei sind. Die S-Bahn ist da weiter, in zwei bis drei Jahren gibt es an allen Stationen Fahrstühle. Die Busflotte der BVG wird bereits Ende des Jahres vollständig behindertengerecht sein. Auch im Baurecht haben wir gute Möglichkeiten. Alle Neubauten mit Publikumsverkehr müssen barrierefrei sein. Das ist ein wichtiges Instrument für uns.

Sie klingen zuversichtlich. Als das Gesetz vor zehn Jahren beschlossen wurde, waren Sie dagegen. Warum?

■ Heute vor zehn Jahren trat das Landesgleichberechtigungsgesetz für Menschen mit und ohne Behinderung in Kraft. Es hat die Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen zum Ziel.

■ Alle öffentlichen Einrichtungen von Berlin und alle Firmen, die zum Land gehören, müssen sich daran halten. Das Gesetz schreibt zum Beispiel vor, dass Bauten mit Publikumsverkehr barrierefrei sein müssen. Das heißt: Für Menschen im Rollstuhl muss es Rampen oder Aufzüge geben, Gehörlose benötigen Anzeigen.

■ Das Gesetz sieht Behindertenbeauftragte auf Landes- und Bezirksebene vor. Sie setzen sich für deren Belange ein.

Uns ging es damals nicht weit genug. Wir wollten, dass die Behindertenverbände immer vor Gericht gehen können, wenn die öffentliche Verwaltung gegen das Gleichberechtigungsgebot verstößt. Der damalige Senat hatte Angst vor einer Klagewelle. Das Verbandsklagerecht wurde auf einige wenige Bereiche wie das Baurecht und die Gastronomie beschränkt. Heute muss ich sagen, wir stehen auch mit diesen Regelungen im Vergleich zu anderen Ländern ganz gut da.

Sie haben angekündigt, im nächsten Jahr als Landesbeauftragter für Behinderte aufzuhören. Weshalb?

Ich werde 65 Jahre alt und muss gesundheitlich etwas kürzer treten. Wenn ich jünger wäre, hätte ich gerne weitergemacht. Man kann eine ganze Menge bewirken. Es gibt in der Gesellschaft inzwischen ein Bewusstsein dafür, dass man Fragen der Gleichberechtigung ernst nehmen muss. An Behindertenpolitik kommen die Verantwortlichen heute nicht mehr so leicht vorbei.

INTERVIEW: ANTJE LANG-LENDORFF