Wenn die Stille hörbar wird

Er hält immer noch seinen Dompteur-Reifen als Requisit in der Hand, der unwillige Löwe bleibt immer noch entbehrlich. Der 82jährige Pantomime Marcel Marceau gastierte im Dortmunder Konzerthaus

VON KLAUS COMMER

Eine solche Stille hört man selten – immer wieder wird es atemlos leise. Wenn dann doch bei Marcel Marceau ein Lachen anklingt oder gar ein Gelächter ausbricht, dann passt es hinein in die Stille. So, als hätten nicht über tausend Menschen fasziniert den Atem angehalten, sondern nur ein Einzelner. Am Wochenende hat „Bip“ sein Publikum im Konzerthaus Dortmund begeistert, Anfang Februar ist der fast 82 jährige Pantomime noch einmal in der neuen Essener Philharmonie zu sehen.

Bereits vor 51 Jahren war er Titelgeschichte der Neujahrsausgabe des Spiegel. „Wenn ,Bip‘ als Dompteur auftritt, hat er natürlich Schwierigkeiten mit dem Löwen – Erschrecken, Fluchen, Triumphieren“ stand damals unter sechs Bildern des ausdrucksstarken Künstlers. Heute hält er immer noch den Reifen als Requisit in der Hand, auch der unwillige Löwe blieb entbehrlich. Bip braucht auf der Bühne kein Wort. Seine Hände und Füße sprechen, seine Augenwinkel, Stirnfurchen und Lachfalten vergegenwärtigen den Tierbändiger, den Straßenmusikanten, den Seekranken. Sieben der zehn Nummern des „Abend mit Marcel Marceau“ sind aus dem großen Repertoire seiner „Pantomine de style“ entnommen. „Im Volksgarten“ und beim „Gerichtshof“ werden unterschiedlichste Charaktere und Umgangsformen lebendig, angedeutet, nie festgelegt. Das ganze Bild entsteht nicht auf der Bühne, sondern erst im Herzen des Betrachters.

Die Finger und Mimik des geborenen Elsässers namens Mangel können inzwischen jede Nuance in den Gefühlen seiner Figuren Gestalt werden lassen, doch seine Körperhaltung ist die eines sehr alt gewordenen Mannes. Aber das ist kein Mangel, sondern eher eine reiche und reife Leistung. Gerade weil die Beine nicht mehr so leichtfüßig mitmachen, fokussiert sich der Blick auf die weiter wachsende Ausdruckskraft der flirrenden, flatternden, zupackenden, andeutenden, distanzierenden Hände, auf die fröhlichen, müden und dann wieder munteren Augen. Marceau ist ein Mensch, fast reduziert auf Kopf und Hand. Doch sein Körper hat nicht an Bedeutung verloren. Durch das erkennbare Alter gewinnt sein melancholischer Lebensmut an Stärke, sein unermüdlicher Kampf mit dem widerspenstigen Löwen. Das Kraftvolle reduziert sich so, wie der Pantomime mit Bips knallroter Blume alle Farben der Welt „vereinfacht“ hat. Schwarz, das Fehlen jeden Lichts, Weiß, die Fülle aller Farben – das sind die extremen Pole, zwischen denen er sich bewegt.

Pantomime visualisiert vor allem das nicht Vorhandene, das in Abwesenheit Vorgestellte. Das ist in Zeiten digitaler Bilderfluten ein höchst seltenes Erlebnis. Es mag die Menschen in Europa und Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg verwundert und bezaubert haben, als der Sohn eines in Auschwitz umgebrachten Juden seine Tourneen in fast hundert Länder antrat, um aus dem Nichts eine neue Poesie Wirklichkeit werden zu lassen. Schon in der Résistance hatte er seinen neuen Namen gewählt und die eigene Personen zu verstecken gelernt. Seine Lehrer wurden Étienne Ducroux und Jean-Luis Barrault und bereits 1947 entwickelt Marcel Marceau in Paris seinen Bip, gewiss ein Wahlverwandter von Chaplins Tramp.

Und diese Körper- und Bühnenprache ist nicht starr und dogmatisch, sondern lebendig und menschlich, mag der Boden beige sein und das Ringelhemd ein mattes Grün zeigen. Wenn er auch kein Wort spricht, nutzt der Künstler hier und da ihm scheinbar zufliegende Musikstücke. Wer Akustik so sparsam einsetzen kann, der macht auch die Stille hörbar.