Das Gesicht der Ukraine tritt an

Vor Hunderttausenden kündigt Wiktor Juschtschenko bei seinem Amtsantritt an, die Ukraine unumkehrbar zur Demokratieund in die Moderne führen zu wollen. Sein von der Dioxinvergiftung entstelltes Gesicht werde heilen wie das seines Landes

AUS KIEW JURI DURKOT

„Ich, der vom Willen des Volkes gewählte Präsident der Ukraine …“ Als Wiktor Juschtschenko bei seiner Amtseinführung in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, das Eid spricht, die Hand auf dem reichlich verzierten Evangelium aus dem 16. Jahrhundert, ist er sichtlich gerührt. Auf dem Gesicht sind noch ganz deutlich die Spuren der Chlorakne zu sehen – eine Folge des Giftanschlags auf den Oppositionspolitiker im September. „Es ist das Gesicht der Ukraine, das zusammen mit unserem Land genesen wird“, hat er oft im Wahlkampf wiederholt. Das kann allerdings noch etwas Zeit in Anspruch nehmen.

Einige Wochen musste Juschtschenko auf die Amtseinführung warten – nach dem Wahlsieg bei der wiederholten Stichwahl am 26. Dezember musste das Oberste Gericht noch über eine Klage seines Gegners, Wiktor Janukowitsch, entscheiden. Das andere Lager hat auf Zeit gespielt, bei der Vereidigung des neuen Präsidenten ist Janukowitsch gar nicht da. „Seit Samstag befindet er sich im Ausland“, lässt seine Mitstreiterin verkünden. Eigentlich ist es ein Verstoß gegen die Tradition, doch die feierliche Stimmung wird dadurch nicht getrübt. Anwesend sind dagegen die beiden Vorgänger Juschtschenkos, Krawtschuk und Kutschma, wie auch zahlreiche ausländische Gäste. Noch nie war die Weltpolitik so prominent in der Ukraine vertreten.

Als Wiktor Juschtschenko eine Stunde später unten am Majdan, dem Unabhängigkeitsplatz ankommt, stehen bereits hunderttausende seiner Anhänger da. Hier haben sie 17 lange Tage und Nächte bei klirrender Kälte ausgeharrt, um gegen den massiven Wahlbetrug zu protestieren. „Das Herz der Ukraine hat in diesen Tagen auf dem Majdan geschlagen. Es war der Sieg der Freiheit über die Tyrannei“, sagt Juschtschenko und bedankt sich beim ukrainischen Volk. Alles hier ist wieder orange, wie schon in den vergangenen Wochen – das Meer der Flaggen, das ansonsten blau beleuchtete Gebäude des Konservatoriums, der Hintergrund hinter dem Rednerpult …

In seiner Inaugurationsrede im Zentrum Kiews spricht der neue Präsident über die wichtigsten Aufgaben – die Bekämpfung der Armut und Korruption, über die Ukraine in Europa. Als eine moderne Nation will Juschtschenko sein Land sehen, das gerade eine neue Seite in seiner Geschichte aufgeschlagen habe. Viele hoffen, dass diese Wahlen tatsächlich ein unumkehrbarer Schritt zur Demokratie waren.

Die Erwartungen sind hoch, die Enttäuschungen werden wohl unvermeidlich sein, die Ausgangslage mag aber auch nicht so schwierig sein, wie es 1991 bei der Unabhängigkeitserklärung der Fall war. Die – wohlgemerkt nicht immer positiven – Erfahrungen sind da, mit der Wirtschaft geht es allmählich aufwärts, und Europa hat das Land endlich auf seinem Radarschirm registriert.

Wie schnell die Ukraine in Europa tatsächlich ankommen wird, hängt in erster Linie von den Erfolgen bei den inneren Reformen an. Außenpolitisch ist der Kalender Juschtschenko bereits diese Woche voll – eine Stippvisite nach Moskau, der Antrittsbesuch in Straßburg, wo der neu gewählte Präsident eine Rede vor dem Europaparlament halten wird, ein Besuch in Polen und die Teilnahme an der Gedenkfeier in Auschwitz, die für den ukrainischen Politiker auch einen wichtigen persönlichen Hintergrund hat – sein Vater saß in diesem KZ.

Juschtschenko dankt ihm und seiner Mutter, die fünf Kinder stehen neben ihm und seiner Frau auf der Bühne – diese Bilder sind neu für die ukrainische Politik. Als die weißen Tauben in den Himmel fliegen, wollen „Juschtschenko“-Rufe nicht aufhören. Für die Menschen ist es der Aufbruch in die neue Ära, mit der die Hoffnungen auf Freiheit und Demokratie verbunden sind. Und der Abschied von der Ära Kutschmas – als im Parlament bekannt gegeben wird, dass die Amtszeit des Vorgängers offiziell beendet ist, kennt der Jubel auf Majdan keine Grenzen.