Fragen für die Zeit danach

Ziel der neuen irakischen Regierung muss es sein, die Bevölkerungsminderheit der Sunniten in die Politik einzubinden

VON KARIM EL-GAWHARY

Die Diskussion unter den Mitgliedern der Wahlkommission war symptomatisch für die Abstimmung, die am 30. Januar im Irak stattfinden soll. Debattiert wurde über die Art der nicht abwaschbaren Tinte, mit der jene Iraker gekennzeichnet werden sollen, die ihre Stimme abgegeben haben. Wie kann man den markierten Wähler vor Racheaktionen der irakischen Guerilla schützen, die angekündigt hat, dass jeder Wähler als ein Kollaborateur mit der Besatzungsmacht angesehen wird und ein Anschlagsziel darstellt?

Der UN-Beauftragte für die irakischen Wahlen, Carlos Valenzuela, schlug vor, man könnte unsichtbare Tinte verwenden, die nur unter ultraviolettem Licht sichtbar ist. Die Idee wurde schließlich als unpraktikabel von der Wahlkommission verworfen.

Die Episode zeigt das ganze Dilemma: Wie organisiert man Wahlen in einem mit ausländischen Truppen besetzten Land, in dem Ausnahmezustand und ein blutiger Guerillakrieg herrscht?

Die Meinungen dazu im Irak gehen weit auseinander: „Gar nicht“, meinen die einen, die für eine Verschiebung plädieren, während andere darauf bestehen, dass die Wahlen wahrscheinlich alles andere als perfekt sein werden, aber doch einen Ausgangspunkt darstellen, um das Land politisch aus dem gegenwärtigen Desaster herauszuführen.

Im Zentrum steht die Frage, wie legitim das neue Parlament sein wird, wenn ein Großteil der Bevölkerung entweder aus politischer Überzeugung oder aus Angst nicht wählen geht. Immerhin wird das Parlament nicht nur eine neue Regierung bestimmen, sondern auch eine Verfassung verabschieden, in der die Rolle der Religion sowie das föderative System und seine Grenzen festgelegt werden sollen.

Das Problem dieser Wahlen ist, dass es gefährlich ist, sie einfach als Versuchsballon steigen zu lassen, in der Hoffnung, damit einen Kickstart für den politischen Prozess einzuleiten. Unter den gegenwärtigen Bedingungen könnte das Ergebnis der Wahlen schnell irrelevant sein, schlimmstenfalls aber zum Auftakt eines Bürgerkrieges werden.

Vor allem die Schiiten, die die Mehrheit der Bevölkerung bilden, zählen zu den Advokaten dieser Abstimmung. Kein Wunder: Allseits erwarteter Wahlsieger ist die vom schiitischen Klerus abgesegnete „Vereinigte Irakische Allianz“. Zweitgrößte Aussichten hat eine von den beiden wichtigsten Kurdenparteien geschaffene Allianz. Die sunnitischen Parteien nehmen dagegen nicht an den Wahlen teil oder haben sogar zum Boykott aufgerufen.

Bereits die heutige Übergangsregierung wird von Schiiten und Kurden beherrscht, die ein ambivalentes Verhältnis zu den US-Besatzern haben. Die meisten Sunniten haben sich dagegen der Post-Saddam-Verwaltung verweigert. Die Wahlen werden diesen Status quo weiter zementieren.

Da das Wahlergebnis also vorhersehbar ist, konzentrieren sich die Debatten der Iraker auf den Tag nach der Abstimmung. Wie werden sich die schiitischen Sieger gegenüber den sunnitischen Verlierern verhalten, lautet die Frage. Sicherlich gibt es unter den Schiiten jene, die ihren Mehrheitsstatus endlich auskosten möchten. Aber es gibt auch durchaus vorsichtige Stimmen. Der einflussreiche Großajatollah Ali al-Sistani spielt schon jetzt jegliches Triumphgehabe über einen „schiitischen Sieg“ herunter. Sein letzte Woche nach Kairo entsandter Vertreter Hamid al-Khalaf brachte eine beruhigende Nachricht für Iraks sunnitische Nachbarn mit. „Die vom neuen Parlament zu verabschiedende Verfassung wird nicht von Einzelinteressen religiöser Gruppen bestimmt werden. In diesem Prozess müssen alle Iraker Gehör finden“, ließ er verlauten.

Und auch Schiitenführer Abdul Asis Hakim, Vorsitzender des Obersten Rates der Islamischen Revolution, der mit Sicherheit in der zukünftigen Regierung eine prominente Rolle spielen wird, gibt sich versöhnlich. „Sunniten müssen in einer zukünftigen Regierung angemessen vertreten sein, egal wie das Wahlergebnis ausfällt“, kündigte er an. Hinter den Kulissen finden bereits jetzt Verhandlungen darüber statt, wie die in den Wahlen unterrepräsentierten Sunniten anschließend doch noch ins politische System eingebunden werden könnten.

Auch unter den Sunniten gibt es zwei Trends, mit dem Wahlergebnis umzugehen. Die alten Baathisten im Untergrund zeigen derzeit keinerlei Interesse, am politischen Prozess teilzunehmen. Doch es gibt auch versöhnlichere Sunniten. „Wir wollen der neuen Regierung nach der Wahl zunächst eine Gnadenfrist gewähren, um zu sehen, wie sie sich verhalten wird, erklärte Ajad Samaraai, der Sprecher der Islamischen Partei, der größten legalen sunnitischen Partei, die sich aus den Wahlen zurückgezogen, aber nicht zum Boykott aufgerufen hat. Er wolle zunächst sehen, ob die neue Regierung das Interesse aller Iraker und nicht das einer religiösen Gruppe vertritt. „Unser Urteil hängt nicht von der ethnischen und religiösen Zusammensetzung der neuen Regierung ab, sondern davon, was sie unternehmen wird“, erklärt Samaraai.

Jenseits von Verfassungsfragen über den religiösen und föderalen Charakter des Staates, die die Iraker trennen, gibt es auch einen einigenden Faktor: den Konsens, dass eine neue Regierung so unabhängig wie möglich von der US-Botschaft in Bagdad agieren sollte.

Schon jetzt enden Debatten unter Irakern über die Wahlteilnahme fast immer bei der Frage, ob Wahlen und die daraus resultierende Regierung den Abzug der Amerikaner beschleunigen wird, oder ob das ganze nur ein Trick ist, eine Puppenregierung zu schaffen, die eine permanente US-Präsenz absegnen wird.

Angesichts der Abhängigkeit von amerikanischen Truppen und US-Aufbauhilfe wird auch eine neue irakische Regierung hier zunächst nur wenig Spielraum besitzen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass auch nach den Wahlen im Irak das Militärische Vorrang vor dem politischen Prozess haben wird: sei es vereint gegen die Besatzung oder getrennt gegeneinander im Bürgerkrieg.